Paul Flemming 03 - Hausers Bruder
Rolle. Paul fühlte sich mit dem Toten verbunden; er war ihm verpflichtet. Daher verwarf er einen Gedanken, der kurz in ihm aufgeblitzt war: Fotos vom Unfallort zu schießen.
Nein, auch wenn Blohfeld ihn im Nachhinein zur Schnecke machen würde, konnte Paul seinen Job in seiner jetzigen Lage nicht machen.
Paul blickte, noch immer benommen und verwirrt, zu Boden. Überall lagen Scherben auf den weißen Fliesen, und neben seinem Fuß warf eine zerfetzte Tischdecke Falten. Paul schob sie geistesabwesend mit dem Fuß zur Seite. Dann verengten sich seine Augen: Unter der Decke lugte die Ecke einer hellbraunen Aktentasche hervor.
Paul sah kurz auf. Die Rettungskräfte waren noch immer beschäftigt; niemand beachtete ihn. Paul zog die Tasche mit dem Fuß zu sich heran und befreite sie von der Tischdecke. Der VAG-Aufkleber fiel ihm sofort auf. Es war Henleins Aktentasche! Die, die er auch bei ihrer gestrigen Begegnung dabei hatte.
Paul hob sie auf. Er streifte die Wolldecke von seinen Schultern und stand auf. Mit der Aktentasche in der Hand ging er auf einen der Polizisten zu:
»Die gehörte dem Verstorbenen«, sagte Paul und hielt die Tasche dem Beamten hin.
»Wenn Sie nicht ernstlich verletzt sind, räumen Sie bitte die Unfallstelle«, wies ihn der Polizist schroff zurecht.
»Aber man sollte die Tasche nicht einfach hier liegen lassen.«
Der Polizist deutete mit ausgestrecktem Arm auf den Ausgang. »Verlassen Sie bitte den Unfallort. Meine Kollegen draußen am Einsatzwagen nehmen Ihre Aussage auf.«
Paul war verdattert und viel zu mitgenommen, um weiter mit dem Polizisten zu diskutieren. Im nächsten Augenblick wurde er von einem Feuerwehrmann angerempelt und verlor die Aktentasche. Ein weiterer Feuerwehrmann trat darauf, bevor sie Paul erneut aufheben konnte. Paul wischte mit seinem Ärmel den Stiefelabdruck von der Tasche.
Verstört verließ er die Eisdiele. Auf der Promenade, die inzwischen für den Verkehr gesperrt worden war, drängten sich immer mehr Schaulustige. Paul sah sich nach der mobilen Einsatzleitstelle um, dem für ihn üblichen Anlaufpunkt für die Presse. Er fand sie nicht. Als der Rettungshubschrauber, der auf der Straße unmittelbar vor der Eisdiele stand, den Motor anließ, wurde Paul abermals von einem Polizisten fortgeschickt:
»Sie sind im Weg!«
Paul deutete auf die Aktentasche. »Ich muss mit jemandem von der Einsatzleitung sprechen.«
»Gehen Sie hinter die Absperrung zu den anderen Gaffern«, giftete ihn der Polizist an.
Paul resignierte; ihm fehlte schlichtweg die Kraft sich zu ärgern. Mit der Tasche unterm Arm ging er über das Kopfsteinpflaster bis zu den Parkplätzen an der gegenüberliegenden Seite der Promenade, wo er seinen Renault abgestellt hatte. Er schloss auf und ließ sich in den Sitz fallen.
Er nahm eine Packung Tempotaschentücher aus dem Handschuhfach und reinigte damit seine Hände. Er klappte die Sonnenblende herunter und begutachtete sich in dem kleinen Spiegel. Seine Haare waren durcheinander und sahen ziemlich wüst aus. Unter den dunklen Augen zeichneten sich tiefe Schatten ab. Dass er sich mal wieder nicht rasiert hatte, rächte sich jetzt, da dies den miserablen Eindruck, den er auf sich selbst machte, noch verstärkte.
Paul klappte den Spiegel zurück und wandte sich der Aktentasche zu. Grübelnd fuhr er mit den Fingern über das feine, stark abgegriffene Schweinsleder.
Er würde die Tasche am besten beim nächsten Polizeirevier abgeben, war sein erster Impuls. Doch dort würde man ihn fragen, warum er sie vom Unfallort entfernt hatte. Dass die Tasche dort niemand haben wollte, würde man ihm kaum glauben, und wahrscheinlich würde er sich sogar verdächtig machen, etwas aus der Tasche herausgenommen zu haben.
Ein widersinniger Gedanke, denn was sollte er schon mit Henleins privaten Dingen anfangen? – Paul stutzte. Einem spontanen Einfall folgend tastete er die Tasche von außen ab. Der Inhalt fühlte sich weich an.
Warum hatte er Henlein in Ansbach treffen wollen? Um das neue Hauser-Hemd zu fotografieren! Sollte es Henlein in seiner Aktentasche verstaut haben? Paul hielt die Tasche in einigem Abstand vor sein Gesicht: Groß genug war sie jedenfalls.
Er haderte mit sich selbst, ob er sie öffnen und hineinsehen sollte. Er biss sich auf die Unterlippe.
Dann zog er am Reißverschluss.
Er klappte die Tasche auf und holte eine durchsichtige Folie heraus. In ihr lag, fein säuberlich gefaltet, ein gelblicher Stoff aus grobem Leinen, der am Rand
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