Paul Flemming 03 - Hausers Bruder
Motorengeräusch der Autos und den Stimmen der Passanten übertönt wurde, war deutlich zu hören. Vor Paul lag das dunkle Plateau der Insel. Hausers damalige Unterkunft gab es nicht mehr, das hatte Henlein gesagt, aber die Umgebung war größtenteils die gleiche geblieben.
Er war Hausers damaliger Bleibe nun sehr nahe: Hier, unweit von ihm, hatte das Haus gestanden, in dem er mehrere Jahre lang gelebt hatte.
Hauser war in Nürnberg viel herumgereicht worden, rekapitulierte Paul. Erst zum Verhör auf die Neutorwache, dann auf die Polizeiwache Rathaus und schließlich in den Gefängnisturm Luginsland. Im Juli 1828 – das wusste Paul aus seiner nächtlichen Lektüre – war Hauser bei Lehrer Daumer eingezogen. Nach den erfolglosen Anschlägen wurde es Daumer allerdings zu viel, so dass Hauser 1830 ins Haus des Kaufmanns Biberbach am Hübnersplatz 5 umquartiert wurde, nur um kurz darauf in die Burgstraße 1, zur Familie des Barons von Tucher umzuziehen. 1831 folgte auf Anregung Feuerbachs dann sein letzter Umzug nach Ansbach.
Doch heute Nacht ging es Paul um Hausers frühe Jahre in Nürnberg, um seine Behausung bei Lehrer Daumer auf der Insel Schütt: Sie war bis zum Krieg in eine Vorinsel, die Hintere Insel Schütt sowie die durch einen Nebenarm der Pegnitz abgetrennte Kleine Insel Schütt unterteilt gewesen. Der Pegnitz-Nordarm wurde später stillgelegt, wodurch die vorgelagerte Insel und die Hauptinsel miteinander verschmolzen. Paul kannte etliche Details noch aus dem Schulunterricht und aus seinen Büchern.
Langsam ging er weiter. Trockenes Laub raschelte unter jedem seiner Schritte.
Daumer war Privatgelehrter gewesen. Unter seiner Obhut hatte Kaspar Hauser lesen und schreiben gelernt. Soweit Paul wusste, war Daumer überrascht von Kaspars Wissensdurst und seiner schnellen Auffassungsgabe gewesen. Was andere in Jahren lernten, begriff Hauser in Tagen. Unerklärlich erschien Daumer die gestochen klare Handschrift seines Schützlings; und auch Paul empfand die Tatsache als sehr ungewöhnlich für ein Findelkind.
Die Liebe fürs Malen und Zeichnen hatte Hausers Fleiß und Eifer beim Schreiben sogar noch übertroffen: Seine Bilder zeugten von tiefer Empfindsamkeit. Blitzartig erinnerte sich Paul an solche Zeichnungen: Figuren, Spielzeuge, Wappen . . .
Paul verlangsamte noch einmal sein Tempo. Die Insel Schütt, umfangen von nächtlicher Dunkelheit, wirkte verlassen und beinahe gespenstisch einsam. Nichts als eine plane Ebene, größtenteils gepflastert, unterbrochen nur von Rasenflächen und kreisrunden hüfthohen Hochbeeten, auf denen dichte Büsche wucherten. Paul musste seine Fantasie anstrengen, um sich an der gleichen Stelle das alte Haus von Professor Daumer vorzustellen. Nach Henleins vagen Beschreibungen musste es eines von vielen schmalen und windschiefen Gebäuden gewesen sein. Eines dieser geschichtsträchtigen Häuser, die bis zu den verheerenden Bombennächten des Zweiten Weltkriegs einerseits das romantische Bild der Nürnberger Altstadt geprägt hatten, andererseits aber auch vielen Bürgern als Rattennester ein Dorn im Auge gewesen waren.
Paul sah sich aufmerksam um und ließ die nächtlichen Eindrücke auf sich wirken.
Hausers Aufzeichnungen, seine Bilder und sein auffallendes Talent galten seinerzeit als Indiz für seine vornehme Abstammung. Daumer musste sich allein schon aus Neugierde überaus intensiv mit seinem Schützling befasst haben, dachte Paul. Denn sicherlich war der Professor – genau wie jeder andere – brennend daran interessiert gewesen, die wahre Herkunft Hausers aufzudecken. Soweit Paul bekannt war, hatte Daumer Hauser sogar nachts überwacht, weil er hoffte, dass er im Schlaf sprechen und einen Hinweis auf seine Herkunft geben würde. Doch Hauser versagte ihm diesen Gefallen und behielt sein Geheimnis für sich.
Der Mond stand direkt über der Insel. Paul sah hinauf, und ihm wurde mulmig bei dem Gedanken an jenen blutigen Samstag im Oktober 1829, über den er gelesen hatte: das missglückte zweite Attentat.
Wie mochte diese Nacht verlaufen sein? Paul kannte inzwischen immerhin so viele Details, dass er sich ein einigermaßen stimmiges Bild machen konnte: Siebzehn Monate nach Hausers Auftauchen in Nürnberg verschafften sich Unbekannte Zugang zu Daumers Wohnhaus. Es war eine herbstlich kühle Nacht. Vielleicht schien – so wie heute – der Mond. Andere Lichtquellen, wie etwa die Gaslaternen, waren zu dieser fortgeschrittenen Uhrzeit längst gelöscht worden. Die Stadt
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