Paul Flemming 03 - Hausers Bruder
schleunigst umspritzen müssen, wenn er nicht auffallen wollte wie ein bunter Hund.
Paul nippte an seinem Espresso und überlegte: Am Abend zuvor – oder besser gesagt: in der Nacht – hatte er noch gute zwei Stunden lang weitere Wissenslücken über Kaspar Hauser gefüllt und vergeblich nach der Bedeutung des Medaillons und der Blume darauf gesucht, bevor er auf seinem Sofa in einen traumlosen Schlaf gefallen war. Heute früh gab es dann gleich den Stress mit der Radversteigerung, und nun war er hier, auf dem Weg zu Henleins Wohnung. Er wollte endlich sein Gewissen erleichtern und das abgeben, was nicht sein Eigentum war – selbst wenn Blohfeld einen Teil davon herausgeschnitten hatte.
Während er die kleine Tasse erneut zum Mund führte, fiel sein Blick auf sein Ebenbild in der Frontscheibe des Cafes. Ein Mann mit leicht geneigtem Kopf spiegelte sich darin. Die schwarzen Haare waren kurz geschnitten und die Koteletten gestutzt, auf der Stirn zeichneten sich drei tiefe Falten ab. Über den dunklen Augen standen zwei kräftige, geschwungene Augenbrauen. Die Nase war schmal und gerade. Um den Mund mit den ausdrucksvollen Lippen stand der Schatten eines Dreitagebartes. Das Konterfei hatte ein markantes Kinn und kleine Grübchen in den Wangen.
Paul überlegte, ob er mit dem, was er da sah, zufrieden sein sollte. Da das Spiegelbild leicht verschwommen war und somit sowohl die ersten weißen Haare als auch eine Vielzahl weiterer Falten und Fältchen unterschlug, beschloss er, seinen Anblick wohlwollend aufzunehmen und guter Dinge in den weiteren Tag zu starten. Er zahlte und schwang sich auf sein buntes neues Vehikel.
Bei Tageslicht betrachtet sah das Haus Am Sand 6 wesentlich freundlicher aus als noch in der Nacht zuvor. Zwar blieb es ein recht durchschnittliches Wohnhaus, aber die liebevoll bepflanzten Balkonkästen und das warme Zartrosa des Verputzes waren in der Dunkelheit nicht zu erkennen gewesen und stimmten Paul wohlgesonnen.
Noch bevor er mit Henleins Aktentasche unter dem Arm die Haustür erreicht hatte, wurde er von einem älteren Herrn angesprochen: »Zu wem möchten Sie, bitte sehr?«
Der Mann war nach Pauls Schätzung um die siebzig. Ein rüstiger Rentner, reichlich korpulent, mit aufmerksamen Augen.
»Ich wollte nur etwas abgeben«, sagte Paul höflich.
»Für wen?«, erkundigte sich der Alte, wobei er seine Neugierde mit einem Lächeln zu kaschieren versuchte.
Paul beschloss, ihm offen zu antworten. Wer wusste schon, ob er nicht die ein oder andere neue Information gewinnen konnte: »Für die Frau Henlein.«
Schlagartig verfinsterte sich die Miene seines Gegenübers. »Oh – eine schlimme Sache, das mit Herrn Henlein.« Der ältere Herr kratzte sich am Nacken und verzog das Gesicht. »Ein guter und anständiger Nachbar. Schon seit vielen Jahren. Immer anständig und sehr korrekt. – Aber vielleicht ein wenig zu sparsam, wenn Sie mich fragen.«
Paul hatte nicht den Hauch einer Ahnung, auf was der Mann hinauswollte und sah ihn auffordernd an.
»Ich möchte meinem Nachbarn nichts Schlechtes nachsagen«, fuhr der Mann fort. Dabei trat er näher an Paul heran und sprach leise weiter: »Meiner Meinung nach hat es Henlein mit dem Knausern übertrieben. All sein Geld steckte er in sein Hobby, den Kaspar Hauser. Für was anderes blieb nichts übrig.« Dann flüsterte er nur noch: »Er war ja nicht mehr der Jüngste, und in unserem Alter sollte man sich zum Reifenwechsel eine Werkstatt leisten, finden Sie nicht auch?«
»Wollen Sie damit sagen, dass Herr Henlein seine Reifen selbst gewechselt hat?«, fragte Paul erstaunt.
Der Mann nickte. »Ja, zweimal jährlich, im Frühjahr und im Herbst. Hier im Hof, vor den Garagen. Dieses Mal ist er besonders ins Schwitzen gekommen. Ich habe ihm dabei zugesehen, wie er die Schrauben nachgezogen hat. Mit seinem altmodischen Werkzeug war das jedes Mal ein umständlicher Akt. Das musste ja irgendwann schiefgehen.«
»Sie glauben also, dass Herr Henlein seinen Unfall selbst verschuldet hat?«, fragte Paul.
Sein Gesprächspartner schaute ihn zunächst zustimmend an, senkte dann aber schnell den Kopf. »Natürlich nicht. – Der arme Henlein. Es war ein dummer Zufall. Niemand kann das Schicksal aufhalten.« Damit zog sich der Mann zurück und ließ Paul alleine vor der Haustür stehen.
Nachdenklich drückte Paul den Klingelknopf. Er musste sich eine Weile gedulden, dann surrte endlich der Türöffner. Im Hausflur roch es nach Waschpulver und Blumenkohl. Eine
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