Paul Flemming 03 - Hausers Bruder
Alle vier Schrauben sind gebrochen. Ich schließe daraus, dass zumindest eine von ihnen nicht fachgerecht verschraubt wurde. Die erhöhte Krafteinwirkung auf die anderen Schrauben führte dann zu einer Materialermüdung und schließlich zum Bruch.«
»Also gibt es tatsächlich Indizien für einen Selbstmord?«, wollte Katinka wissen.
Jasmin Stahl winkte ab. »Aber nein. Wenn Sie mich fragen, spricht das eher für Nachlässigkeit. Der Fahrer hat bei der Montage seiner Winterreifen ganz einfach geschlampt. Wahrscheinlich waren die Schrauben bei dieser alten Karre ohnehin schon korrodiert.«
»Werden Sie das so auch der Versicherung weitergeben?«, fragte Katinka.
»So vielleicht nicht.« Die junge Frau grinste offen. »Aber in etwas geschliffenerem Deutsch werde ich denen schreiben, dass sie sich getäuscht haben und die Kohle gefälligst für die trauernde Witwe herausrücken sollen.«
Paul musste sich abermals dazu zwingen, seine Erheiterung zu unterdrücken, trotzdem sah ihn Katinka bitterböse an und gab ihm unterschwellig Zeichen zu gehen. Als die jedoch nichts nutzten, sagte sie laut zu der Oberkommissarin: »Wir werden uns wieder bei Ihnen melden«, und zog Paul am Ärmel davon.
»Und soll ich mit meinen Untersuchungen weitermachen?«, fragte die Rothaarige noch.
»Nicht nötig«, antwortete Katinka im Gehen.
»Es gäbe da noch ein paar Möglichkeiten«, rief ihnen Jasmin Stahl nach. »Nicht ganz strikt nach Vorschrift, aber dafür ergiebig. Was halten Sie davon, wenn ich . . .«
»Nichts!« Katinka würgte sie ab, ohne sich noch einmal umzudrehen.
»Eine überzeugende Vorstellung, was?«, fragte Paul, als sie das Präsidium verlassen hatten und über den Ludwigsplatz in Richtung Weißer Turm gingen.
»Diese Frage meinst du hoffentlich nicht ernst«, schalt ihn Katinka. »Die Frau ist doch absolut indiskutabel! Ich werde mich wohl oder übel über sie beschweren müssen.«
»Ich meine aber gar nicht Frau Stahl«, sagte Paul in ruhigem Tonfall, woraufhin Katinka prompt errötete. »Ich wollte bloß wissen, wie du den Henlein-Unfall einschätzt.«
»Ach so.« Katinkas Brauen verengten sich. »Ich denke, die Versicherung wird zahlen müssen. Henleins Tod war ein Unfall – und dabei bleibt es.«
19
Paul knipste seine Schreibtischlampe an. Ein – bis auf den Besuch im Polizeipräsidium am Morgen – ereignisloser Tag lag hinter ihm. Den ganzen Nachmittag hatte er sich davor gedrückt, endlich die letzten Museumsbilder von seiner Kamera auf den Rechner zu überspielen und zu bearbeiten. Auch vor der Hausarbeit, die sich in Form von Geschirrbergen auf der Arbeitsfläche seiner Küchenzeile stapelte, hatte er gekniffen. Nun war längst der Abend angebrochen.
Während er also gezwungenermaßen doch noch den Computer startete, dachte er über die Gründe für seine Trägheit nach und fand eine mögliche Erklärung darin, dass er Mittwoche noch nie gemocht hatte. Der Mittwoch war am weitesten vom Wochenende entfernt – und zwar zeitlich in beide Richtungen betrachtet. Somit suggerierte der Mittwoch Paul nichts anderes als Arbeit, Arbeit, Arbeit, ohne Aussicht auf Entspannung.
Obwohl der PC jetzt hochgefahren und die Kamera per USB-Kabel angeschlossen war, gelang es Paul tatsächlich, seine dringlichsten Aufgaben abermals beiseite zu schieben. Statt sein Bildbearbeitungsprogramm zu starten, ging er zuerst einmal ins Internet.
Sein Kinn auf seine gefalteten Hände abstützend, studierte er die Trefferliste, die ihm Google auf das Stichwort »Feuerbach« geliefert hatte. Anselm von Feuerbach, der streitbare Ansbacher Gerichtspräsident und Hauser-Förderer, war ihm die ganze Zeit über nicht mehr aus dem Kopf gegangen.
1832, las Paul im Internet, zog Feuerbach das unmissverständliche Fazit aus seinen Nachforschungen über Kaspar Hauser: Er hielt ihn definitiv für den entführten Erbprinzen aus dem Hause Baden und machte seine Meinung öffentlich. Am 29. Mai 1833, in Hausers Todesjahr, starb auch Anselm von Feuerbach in Frankfurt am Main. Todesursache ungeklärt, womöglich eine Vergiftung. Das alles wusste Paul bereits aus seinen Büchern, doch dann entdeckte er unten rechts auf dem Bildschirm einen Link einer weiteren Seite; offenbar ein Chatroom zum Thema Hauser.
Neugierig geworden, klickte er den Link an und fand sich auf einer ziemlich chaotischen Seite wieder. Scheinbar wahllos kommunizierten hier diverse Internetnutzer unter Fantasienamen zu den unterschiedlichsten Fragen über den Fall Hauser.
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