Paul Flemming 03 - Hausers Bruder
Nationalmuseum zu bearbeiten. In den letzten Tagen hatte er genug gehört und gesehen, was den Tod anbelangte. Und die Sache mit Henlein . . . – Vielleicht, so dachte er, sollte er zur Abwechslung mal in einem Roman schmökern, um auf andere Gedanken zu kommen.
Meistens las er zwei Bücher gleichzeitig, mal ein paar Seiten aus dem einen, mal einige aus dem anderen. Zur Zeit war es Pedro Juan Gutiérrez’ Schmutzige Havanna Trilogie und Philippe Djians Schwarze Tage, weiße Nächte. Beides alles andere als Langweiler und voll knisternder Erotik, doch selbst darauf hatte Paul keine rechte Lust.
Langsam gewöhnten sich seine Augen an das Dunkel, und er bemerkte das blinkende rote Licht auf seinem Anrufbeantworter. Er schwang sich auf, um die Nachrichten abzuhören.
Zwar hatte niemand etwas draufgesprochen, doch die Nummer auf dem Display zeigte ihm, dass Katinka versucht hatte, ihn zu erreichen.
Grübelnd harrte er vor dem Anrufbeantworter aus. Womöglich war Katinka die Lösung für sein Dilemma. Vielleicht sollte er mit ihr noch einmal ausführlich über Henlein sprechen und über Jan-Patricks Vermutung.
Aber wahrscheinlich würde sie ihn nur auslachen. Es war einfach zu absurd, im Zusammenhang mit Kaspar Hauser allen Ernstes einen Mord in heutigen Tagen zu konstruieren. Außerdem war Kati wegen Berlin noch eingeschnappt. Und er hatte absolut kein Bedürfnis, das Thema an diesem späten Abend noch einmal aufzukochen.
Trotzdem griff er nach einigem Ringen mit sich selbst zum Telefon und wählte ihre Nummer.
»Blohm.« Paul hörte ihre angenehm klare Stimme schon nach dem zweiten Tuten.
»Ich bin es: Paul.« Er ließ Katinka keine Zeit, ihm Vorhaltungen jedweder Art zu machen. »Ich weiß, dass es spät ist. Und ich weiß auch, dass du sauer auf mich bist. Aber hör mir bitte zu. . .«
»Paul?«, unterbrach ihn Katinka.
»Nein, nein, sag jetzt bitte nichts. Ich brauche deine Meinung zu einer Sache, die sich in deinen Ohren sicher ein wenig kindisch anhört.«
»Paul, ich. . .«
»Warte! Lass mich erst erklären, worum es geht: Wir haben doch über diese Geschichte mit Henlein gesprochen. Es ist ja so, dass ich die ganze Sache für einen Unfall gehalten habe und eigentlich noch immer dafür halte.«
»Lieber Paul, bitte . . .«
»Einen Moment noch, lass mich zu Ende sprechen: Henlein hatte mit seinen Recherchen einigen Staub aufgewirbelt. Was ist, wenn seine Entdeckungen jemandem geschadet hätten? Was, wenn man ihn gezielt daran hindern wollte, seine Erkenntnisse über den Fall Hauser an die Öffentlichkeit zu bringen?«
»Paul, ich glaube . . .«
»Bitte halte mich jetzt nicht für einen Einfaltspinsel, und ich möchte dir auch keinesfalls mit halbgaren Vermutungen auf die Nerven fallen, aber ich möchte wirklich wissen . . .«
Diesmal war es Katinka, die mit einem energischen »Stopp!«, seinen Redefluss bremste: »Jetzt halt doch mal den Mund! Ich habe bereits vor zwei Stunden versucht, dich zu erreichen. Aber es hat niemand abgenommen. Tatsächlich gibt es im Fall Henlein Neuigkeiten, und ich dachte mir, dass dich die interessieren würden.«
»So?«, fragte Paul kleinlaut.
»Ja, seine Lebensversicherung macht Schwierigkeiten. Bevor sie die Summe an seine Witwe auszahlt, will sie einen Selbstmord sicher ausgeschlossen wissen.«
»Lebensversicherung? Selbstmord?« Paul war verblüfft.
»Nun – da sich offensichtlich ein Rad von dem Wagen gelöst hat und Henlein seine Reifen eigenhändig wechselte, könnten überkritische Gutachter unterstellen, dass er mit Vorsatz gehandelt hat.«
»Aber das ist doch absurd.«
»Nicht in den Augen einer Versicherung, die sich fünfzigtausend Euro sparen könnte. Jedenfalls haben meine Ansbacher Kollegen die Akte an uns weitergereicht, und morgen haben wir den Unfallwagen und können ihn unter die Lupe nehmen. – Ich habe mir gedacht, dass du vielleicht dabei sein möchtest?«
Paul wurde ganz warm ums Herz angesichts Katinkas freundlichem Tonfall und ihrem großzügigen Angebot. »Sicher, gerne! Aber geht das denn?«, fragte er.
»Mein lieber, lieber Paul«, säuselte Katinka in den Hörer, »noch bin ich Staatsanwältin in Nürnberg und nicht in Berlin. Ich werde dich einfach mitnehmen. Wir treffen uns dann pünktlich um neun vorm Polizeipräsidium am Ludwigsplatz.«
18
Die Kfz-Werkstätten des Erkennungsdienstes befanden sich in dem weitläufigen Innenhof des Polizeipräsidiums Mittelfranken. Über die hohe Mauer hinweg, die den Hof vor unbefugten
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