Paul Flemming 03 - Hausers Bruder
und Baracken. Sie mussten sich ihr Essen erbetteln und ihre tiefe Sehnsucht nach den Eltern verdrängen, um den tagtäglichen Überlebenskampf zu bestehen. Ihre frühesten Erfahrungen waren die der Entwurzelung, Familienverlust und Gewalt. Dazu kam dann noch die ständige Suche nach Anerkennung: Findelkinder waren in den Fünfzigern oft Diskriminierte, um deren Belange sich niemand geschert hat.«
Der Archivar schlug den Aktenordner wieder zu und schwieg.
Auch Paul hielt sich nachdenklich zurück, bevor er auf den Ausgangspunkt ihrer Unterhaltung zurückkam. »Was ist aus dem Geschlecht der von Buchenbühls letztendlich also geworden?«
Dittrich blickte auf. »Die Überreste der Familienmitglieder konnten meines Wissens nach nie hinreichend zugeordnet werden. Die letzte und finale Bombennacht hatte hunderte von Todesopfern gefordert – da hatte niemand Zeit für aufwändige forensische Untersuchungen. Da kein Erbe zu ermitteln war, wurde das Testament der Familie vollstreckt.«
»Ja, ich weiß«, sagte Paul, »der Nachlass ging an die Öffentliche Hand, genauer, an die Kirche.«
»Das ist korrekt«, bestätigte der Archivar. »Das Testament sah für den Fall, dass es einmal keinen Buchenbühl-Nachkommen mehr geben würde, vor, das gesamte Vermögen und sämtliche Grundstücks – und Immobilienbesitztümer an die evangelisch-lutherische Kirche zu überschreiben.«
»War denn so etwas üblich?«, wollte Paul wissen.
»Durchaus. Heutzutage vererben die Leute ihr Geld zwar lieber dem Tierheim, aber bis vor ein paar Jahrzehnten noch waren die Kirchen die großen Nutznießer.« Dann schaute Dittrich wieder auf seine Armbanduhr. »Die Kirche hat das Geld jedenfalls gut gebrauchen können, denn der Wiederaufbau der Kirchen war ja teuer. Auch die Grundstücke haben wohl erkleckliche Beträge eingebracht.«
»Wurden sie denn alle verkauft?«
Der Archivar stand auf und ging zu einem Wandschrank. Er öffnete ihn und nahm seinen Mantel von einem Kleiderbügel. »Ja, die meisten wurden inzwischen zu Geld gemacht. Verkauft oder verpachtet. Von dem jüngsten Vertragsabschluss haben Sie sicher gehört: der Franziskanerhof.«
»Ach«, heuchelte Paul Unwissenheit, um mehr zu erfahren, »dieses Filetgrundstück stammt also aus dem Buchenbühl-Erbe?«
»Genau, und der neue Investor Bernhard Schrader wird das Pegnitzgrundstück sicherlich nicht zum Schnäppchenpreis bekommen haben.«
Gemeinsam gingen sie zur Bürotür, wo sich Paul von dem Archivar verabschiedete und ihm für die Hilfe dankte.
Jetzt hatte er eine seriöse Bestätigung für seine Vermutung, dachte Paul mit Genugtuung. Der kaum zu leugnende Zusammenhang mit der Kirche passte ihm allerdings gar nicht. Keinesfalls wollte er seinen Freund Hannes Fink in die Klemme bringen.
28
Er hatte eine unruhige Nacht hinter sich, in der er immer wieder an Henlein hatte denken müssen. Er hasste dieses Gefühl, unausgeschlafen zu sein. Nun stand er vor dem Spiegel in seinem schmalen Badezimmer und musterte sich: Die tiefen Schatten unter seinen Augen waren noch ausgeprägter als vor ein paar Tagen, und der Rest seines Gesichts sah reichlich zerknittert aus.
Missmutig schlug er auf den Rand des Waschbeckens und setzte seine kritische Selbstinspektion fort. Er wandte den Kopf nach rechts und nach links. Er überlegte ernsthaft, ob er sich einige der weißen Haare an seinen Schläfen auszupfen sollte. Aber dann waren da ja immer noch die verräterischen Fältchen . . .
Paul eilte ins Atelier, zog ein Magazin aus dem Zeitschriftenstapel neben seinem Sofa und blätterte suchend darin herum. Schließlich fand er, wonach er gesucht hatte: Er nahm die Probepackung Faltencreme aus dem Heft und rannte zurück ins Badezimmer. Sorgsam rieb er sich die Augenpartie ein – und fing dann an zu lachen. Erst leise und zaghaft, dann immer lauter und ausgelassener.
Was tat er hier eigentlich? Wollte er sich mit Hilfe einer Gratispackung Gesichtscreme wieder jung zaubern? »Du bist ein eitler Gockel!«, schimpfte er sein Spiegelbild und schnitt eine Grimasse.
Das Lachen tat ihm gut. Schon besser gelaunt zog Paul sich etwas über und verließ seine Wohnung. Mit frischen Brötchen und der Tageszeitung kehrte er zurück. Er schlug sie auf: nichts Neues über Kaspar Hauser. War Blohfeld doch noch der Stoff ausgegangen?, fragte er sich. Er schmierte sich ein Brötchen mit Teewurst, dann wählte er die Handynummer des Reporters:
»Guten Morgen«, sagte er, nachdem sich Blohfeld wie üblich
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