Paul Flemming 03 - Hausers Bruder
»Was würde es für Sie eigentlich bedeuten, wenn Sie die Bauarbeiten für einige Zeit unterbrechen müssten?«
Dr. Klier schaute Paul zunächst ratlos, dann beinahe belustigt an. »Unterbrechen? Das wäre eine Katastrophe! Allein die Wasserrückhaltung kostet uns jeden Tag Zigtausende. – Wie kommen Sie auf diese Frage?«
Paul drückte sich vor einer Antwort und erkundigte sich stattdessen nach dem Bauherrn.
»Oh, da haben Sie Glück«, sagte Klier freundlich. »Soviel ich weiß, ist Herr Schrader heute auf der Baustelle.« Er hob die Hand und deutete nach links. »Gehen Sie einfach zum Container des Poliers: Der wird Ihnen weiterhelfen.«
Paul dankte für den Hinweis und verabschiedete sich. Als er jedoch auf den Container zuging, fühlte er einen Anflug von Selbstzweifeln. Was wäre, wenn ihn der Polier tatsächlich direkt zu Schrader führen würde und dieser wider Erwarten auch noch Zeit für Paul hätte? Was sollte er ihn konkret fragen? Schrader war ein viel geachteter Mann, einer der wichtigsten Immobilienmogule der Stadt. Wohl kaum würde er sich Pauls halbgare Mutmaßungen über die ausgestorbene Patrizierfamilie und ihr Erbe anhören. Andererseits: Was hatte Paul schon zu verlieren? Er gab sich einen Ruck und betrat den Baucontainer. Im Inneren brannte helles Neonlicht. An einem Tisch in der Mitte des nüchternen Raums saß ein großer Mann, der in seinen riesigen Händen ein überdimensionales Wurstbrot hielt und offensichtlich gerade hineinbeißen wollte.
»Sind Sie der Polier?«, erkundigte sich Paul.
Der Mann nickte langsam und legte widerwillig sein Wurstbrot beiseite. »Ja, ich bin hier der Kapo. Was gibt’s?«, fragte er brummig.
Paul brachte sein Anliegen vor, woraufhin sich der Riese erhob. Er überragte Paul um zwei Kopflängen.
»Kommen Sie mit«, sagte er mit ausgeprägter Bassstimme.
Paul folgte dem Polier über die Baustelle. Um sie herum herrschte nach wie vor rege Geschäftigkeit. Sie mussten auf den unebenen Erd – und Steinwegen der Baustraßen diversen Baggern und Lastwagen ausweichen. Über ihnen kreisten unverändert die Ausleger der Kräne mit ihrer tonnenschweren Fracht. Paul bemerkte, dass er der Einzige weit und breit ohne Bauhelm war.
Er überlegte, ob er den Polier für ein Gespräch über seinen Chef gewinnen konnte. Er könnte damit einsteigen, dass er sich als Freund von Jan-Patrick vorstellte, der ja immerhin das Catering für das Richtfest übernahm. Aber der Hüne vor ihm machte nicht den Eindruck, als ob er Lust auf eine Unterhaltung mit ihm hatte. Ganz gleich, was Paul ihm erzählen würde.
Sie erreichten ein Baugerüst, das unmittelbar neben einer mächtigen, offenbar frisch betonierten Wand stand. Paul strich im Vorbeigehen mit der Hand über die raue Oberfläche: Der Beton war noch feucht und wohl gerade erst ausgeschalt worden.
»Ist Herr Schrader dort oben?«, rief Paul gegen den Baulärm an.
Der Kapo sparte sich eine Antwort und kletterte die steile Leiter des Gerüsts hinauf. Paul folgte ihm und erfasste erst im Hinaufsteigen die ganze Höhe der Wand: Das Trutzwerk aus Beton erhob sich von der Baugrube aus gut und gern zehn Meter und bildete den Abschluss des Gebäudekomplexes zur Pegnitz hin. Als sie den Scheitel der Wand erreicht hatten, sah Paul unter sich das Pegnitzwasser glitzern und auf der anderen Seite die tief unter ihm liegende Baugrube.
Dieser Ausflug war nichts für Menschen mit Höhenangst, dachte Paul, während er dem Polier weiter folgte. Sie kamen an den Abschluss der Wand, wo bereits die Holzschalung für weitere Abschnitte aufgestellt worden war, aber der Beton gerade erst verfällt wurde. Paul bestaunte die ausgeklügelte Technik: Ein Betonmischer weit unter ihnen in der Grube, der von hier oben aussah wie ein Spielzeugauto, goss seine flüssige Ladung in einen Trichter. Eine starke Pumpe beförderte den Beton über ein hydraulisch bewegtes Rohrsystem im Zickzack bis hinauf zum Wandabschluss, wo der zähflüssige graue Brei blubbernd und schmatzend in den Hohlraum der Holzschalung floss.
Noch während Paul die beeindruckenden Techniken der Großbaustelle bewunderte, wurde ihm plötzlich klar, dass sie am Ende des Weges angelangt waren. Hier oben ging es nicht mehr weiter, sondern nur noch zurück. Erstaunt sah er sich um: Von einem geschäftsmäßig gekleideten Herrn wie Schrader war weit und breit nichts zu sehen. Außer ihnen beiden hielt sich hier oben niemand mehr auf.
Der Kapo sah Paul jetzt sehr streng an.
»Wo ist
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