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Paul Flemming 03 - Hausers Bruder

Titel: Paul Flemming 03 - Hausers Bruder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan Beinßen
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Regeln. Sie sattelten um und gingen recht erfolgreich Immobiliengeschäften nach.«
    Paul drängte auf das Ende der Geschichte: »Und zum Schluss? Spielten die von Buchenbühls noch eine Rolle in Nürnberg?«
    Dittrich seufzte: »Ich will wirklich nicht auf die Uhr sehen, aber allmählich frage ich mich, ob wir diese kleine Geschichtsstunde nicht doch besser auf einen anderen Zeitpunkt verlegen sollten.«
    Kurzerhand zog Paul das Foto mit Henleins Medaillon aus der Tasche und legte es vor Dittrich auf dessen Schreibtisch. Dieser nahm es vorsichtig zwischen Daumen und Zeigefinger und studierte es gründlich. Sein Gesicht wurde dabei noch zerknautschter, doch seine Augen funkelten lebendig.
    »Wo haben Sie das her?«, fragte er nach kurzem Zögern.
    Paul erzählte von seinem Auftrag und fügte als Erklärung hinzu, dass das Medaillon seit Henleins Autounfall als verschwunden galt.
    Der alte Archivar betrachtete das Foto noch eine Weile, dann sagte er sehr langsam und leise: »Das Geschlecht der von Buchenbühls gilt seit der Zerstörung Nürnbergs im Jahr 1945 als ausgestorben. Das Medaillon, das Sie da fotografiert haben, zeigt höchstwahrscheinlich einen Teil des von Buchenbühlschen Wappens.« Er zerzauste nachdenklich sein struppiges Haar. »Meine Erklärung dafür lautet, dass es sich ein Plünderer angeeignet und an diesen Henlein weitergegeben hat.«
    Das wäre natürlich auch eine Möglichkeit, dachte Paul etwas enttäuscht. Doch auch Dittrich musste die zweite Variante einfach in Betracht ziehen, deshalb sagte Paul: »Oder Henlein war möglicherweise rechtmäßiger Inhaber des Medaillons . . .«
    ». . . weil er als einziger von Buchenbühl-Nachkomme den Nürnberger Feuersturm überlebt hat«, beendete Dittrich den Satz pathetisch. »Vorstellbar ist diese Variante tatsächlich-vor allem durch den Gedächtnisverlust, von dem Sie erzählt haben.« Der Archivar ging auf ein zimmerhohes Regal zu, das bis auf den letzten Zentimeter mit Aktenordnern und Karteikästen gefüllt war. Er musste nicht lange suchen, bevor er einen der Ordner herausnahm und sich Paul gegenübersetzte.
    Dittrich schlug den Ordner auf, und Paul sah vergilbte Dokumente, die mit Schreibmaschine ausgefüllt waren und verblichene Stempel trugen. Er erkannte Namen und Adressen, doch die meisten Dokumente waren unvollständig ausgefüllt. Bei einigen fehlte das Geburtsdatum, bei anderen die Anschrift, bei vielen war lediglich ein Vorname eingetragen.
    Der Archivar nahm ein Dokument heraus, an das ein ausgeblichenes Schwarzweißfoto geklammert war. Paul erkannte einen Jungen, vielleicht fünf Jahre alt, der zwei verschiedene Schuhe, eine viel zu große und dadurch wie ein Sack fallende Hose und eine Militärjacke mit hochgekrempelten Ärmeln trug. Er hatte helle, ungeordnete Haare, abstehende Ohren – und unendlich traurige Augen.
    »Wer ist das?«, fragte Paul, der bei dem Anblick sofort an den jungen Henlein dachte.
    »Nur einer von vielen. Ein Namenloser«, sagte Dittrich. »Wahrscheinlich ein Flüchtlingskind, das seine Angehörigen auf dem langen Marsch von Ostpreußen nach Franken verloren hat. Aus der Akte geht leider nicht hervor, was aus ihm geworden ist.«
    »Gab es tatsächlich so viele von ihnen?«, fragte Paul, wobei er seinen Blick nicht von dem erbärmlichen Gesichtsausdruck des Jungen lösen konnte.
    »Ja, sehr, sehr viele«, sagte der alte Archivar traurig, und es schien, als würden längst vergessen geglaubte Eindrücke aus der Vergangenheit in ihm wachgerufen. »Nach dem Krieg wurden landesweit dreihunderttausend verloren gegangene Kinder vom Roten Kreuz gesucht. Sogar heute noch bekommen wir Anfragen von alten Menschen, die ihre Herkunft klären möchten, und von sehr Betagten, die ihre vermissten Kinder niemals aufgegeben haben. Fast fünftausend Fälle sind noch immer ungeklärt.«
    »Henlein bildet also keine Ausnahme?«
    »Nein, durchaus nicht. Wenn er tatsächlich ein von Buchenbühl-Spross war und die Bombennacht überlebt hat, muss er in den Tagen, Monaten und Jahren danach Höllenqualen durchlitten haben.« Dittrich war jetzt sehr ernst. Paul merkte ihm an, wie nahe ihm dieses Thema ging. »Verarbeitung braucht Erinnerung – doch die hatten Henlein und seine Schicksalsgenossen nicht mehr. Es ist unvorstellbar, was in den Seelen der Kinder geschah, die statt Geborgenheit und Zärtlichkeit nur die Einsamkeit und Todesangst des Krieges und der Jahre danach erfuhren. Sie hungerten, gingen in Lumpen, hausten in Scheunen

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