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Paul Flemming 03 - Hausers Bruder

Titel: Paul Flemming 03 - Hausers Bruder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan Beinßen
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heraus.
    »Was Herrn Henlein widerfuhr, ist nicht ungewöhnlich«, fuhr die junge Frau fort. »Das autobiografische Gedächtnis des Menschen, in dem Erinnerungen an Personen, Erlebnisse und Gefühle sozusagen aufbewahrt werden, arbeitet höchst unzuverlässig – und es lässt sich sehr einfach manipulieren.«
    Blohfeld stand auf und stemmte seine Arme in die Hüften. »Bei Henlein gab es nichts mehr zu manipulieren. Er hat seine komplette Erinnerung verloren, weil wahrscheinlich unmittelbar vor seinen Augen eine Bombe explodiert ist und seine komplette Verwandtschaft ausradiert hat.«
    Die Volontärin schien mit sich zu hadern, ob sie ihrem Chef widersprechen durfte. Paul sah sie ermutigend an, worauf sie weitersprach: »Vielleicht haben Sie recht, Herr Blohfeld. Es kann sich aber ebenso gut um einen › False Memory-Effekt ‹ handeln. In diesem Fall wäre die psychisch labile Lage Henleins unmittelbar nach der Bombennacht dafür aus genutzt worden, um ihm seine Erinnerung zu nehmen.«
    »Sprechen Sie etwa von Gehirnwäsche?«, fragte Blohfeld.
    Die Volontärin nickte zaghaft. »Ja, so in der Art. Es gibt wissenschaftliche Versuche, bei denen Probanden nicht existente Ereignisse als reale Erinnerungen suggeriert wurden. Umgekehrt lassen sich ebenso tatsächliche Erinnerungen ausschalten. Voraussetzung ist natürlich eine gewisse Labilität der Versuchsperson, die etwa durch Schlafentzug, extreme Stresssituationen oder völlige Isolation erreicht werden kann.«
    »Oder durch paralytische Ereignisse, wie sie in einem Krieg Vorkommen«, vollendete Paul.
    Die Volontärin nickte heftig. »Das autobiografische Gedächtnis hat den Erkenntnissen der modernen Hirnforschung nach nur wenig mit der realen Vergangenheit zu tun. Es ist vielmehr dafür da, dass wir uns in der Gegenwart und in der Zukunft orientieren können. Im autobiografischen Gedächtnis lagert die persönliche subjektive Lebensgeschichte. Es ist das komplexeste der Erinnerungssysteme und bietet entsprechend viele Angriffsflächen für Manipulation.«
    Blohfeld sah seine Auszubildende jetzt mit gewisser Anerkennung an. »Sie haben sich also davon überzeugt, dass eine Amnesie auch künstlich verursacht werden kann?«
    »Ja«, bestätigte die Volontärin. »Henlein hatte seine Erinnerungen womöglich niemals wirklich verloren. Der Gedächtnisverlust war ihm – vielleicht – nur eingeredet worden.«
    32
    O.k., dachte Paul, als er das Redaktionsgebäude verlassen hatte. O.k., Blohfeld hatte ihm eine vernünftige Arbeitsteilung vorgeschlagen. Der Reporter würde sich die wirklich harte Nuss vornehmen und Baulöwe Schrader auf den Zahn fühlen. Im Gegenzug würde Paul sich wieder der Hauser-Spur widmen – wobei er sich bei näherer Betrachtung der vor ihm liegenden Aufgaben fragte, ob ihm wirklich der leichtere Part zugefallen war.
    Der Trödelmarkt lag keine fünf Gehminuten von der Redaktion entfernt und präsentierte sich Paul wie stets als Idylle eines städtischen Kleinods. In Gedanken versunken schlenderte er über den kleinen Platz und hatte kurz darauf den Devotionalienladen erreicht.
    Mit gemischten Gefühlen betrat Paul das kleine Geschäft. Sein Unbehagen nahm zu, als er sich allein in dem Verkaufsraum wiederfand, der nach wie vor mit sakraler Kunst voll gestellt war.
    »Hallo?«, rief er nach längerem Warten in den Raum.
    Nichts rührte sich.
    Paul nahm ein Marien-Bildnis aus dem Korb mit Sonderangeboten und studierte es beiläufig. Dann rief er abermals nach Zetschke. Doch nichts tat sich.
    Unruhig geworden, ging Paul hinter den Verkaufstresen. Er schob den Vorhang zum Nebenraum beiseite und gelangte in ein enges, dunkles Büro. Dort stieß er auf einen Schreibtisch, über den diverse Papiere, Kontoauszüge und Belege kreuz und quer verteilt lagen. Das Ganze sah ziemlich wüst aus!
    Sicherheitshalber tastete er nach seinem Handy. Nachdem er es auf seiner Heizung hatte trocknen lassen, funktionierte es glücklicherweise wieder. Sollte er die Polizei anrufen?
    Nach kurzem Abwägen entschied sich Paul dagegen. Für ein solide geführtes Büro herrschte hier zwar eine gewaltige Unordnung, für einen Einbruch aber war das Chaos nicht groß genug, dachte er.
    Paul drehte sich langsam um die eigene Achse und ließ seinen Blick durch den kleinen Raum schweifen. Das Durcheinander ließ darauf schließen, dass jemand gezielt, aber in Eile nach etwas ganz Bestimmtem gesucht hatte. Derjenige schien sich ausgekannt zu haben, denn die Unordnung war auf den

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