Paul Flemming 04 - Die Meisterdiebe von Nürnberg
spürte eine beunruhigende Leere in sich. Der Mangel an Erinnerungen zermürbte ihn. In seinem Gedächtnis klaffte diese gewaltige Lücke – ihm fehlten die Bilder der entscheidenden Stunden.
Bilder? Paul hob seinen Kopf. Das war das Stichwort! Plötzlich sah er Licht am Ende des Tunnels. Mit etwas Glück konnte er Bilder des gestrigen Abends auftreiben. Er hatte nach den Fotoaufnahmen im Lochgefängnis zwar das Gros seiner Ausrüstung zurück ins Atelier gebracht, aber seine kleine Leica mitgenommen. Denn ganz ohne Kamera fühlte er sich nackt.
Im Goldenen Ritter hatte er den Fotoapparat ausgepackt, ein paar Schnappschüsse gemacht. Dann war die Kamera fleißig am Tisch herumgereicht worden. Jeder hatte jeden abgelichtet.
Während Paul jetzt mit fahrigen Bewegungen seine Wohnung absuchte, klammerte er sich an die Hoffnung, dass sie auch vom späteren Abend Fotos gemacht hatten.
Das Sofa, auf dem er in der Nacht eingeschlafen war, erwies sich als unergiebig. Er suchte weiter zwischen den Zeitschriften auf seinem Couchtisch. Dann durchwühlte er die Unterlagen auf seinem gläsernen Schreibtisch. Fehlanzeige.
Schließlich schaute er in der Küchenzeile nach. Diesmal mit Erfolg: Neben einem halb geleerten Glas Wein lag die kleine Leica. Paul schnappte sie sich und eilte zurück zum Schreibtisch.
Er schaltete seinen Computer an. Es kam ihm vor wie eine Ewigkeit, bis der Rechner hochgefahren war.
Paul legte die Speicherkarte der Kamera in den Kartenleser des Computers. Innerhalb weniger Sekunden waren die Bilder übertragen, und Paul ließ sie als Diashow ablaufen.
Die muntere Runde des Vorabends füllte nun den Flachbildschirm aus. Paul sah Beate Meinefeld und das andere Model Arm in Arm vor der Kamera herumalbern. Dann erschienen die Mädchen einzeln, wieder lachend. Ein weiteres Foto zeigte sie alle drei zusammen mit Paul in der Mitte, fröhlich und ausgelassen. Er hatte das Bild mit ausgestrecktem Arm selbst gemacht.
Die nächsten Aufnahmen ließ Paul schneller durchlaufen. Schließlich wechselte die Kulisse: Aus der urig rustikalen Atmosphäre des Goldenen Ritters ging es hinaus in die pechschwarze Nacht. Paul betrachtete nun wieder jedes Bild einzeln.
Zu sehen waren Beate Meinefeld und er selbst. Wahrscheinlich hatte das andere Model diese letzten Aufnahmen gemacht. Fünf Stück waren es genau: Auf dem ersten Bild hatte sich Bea bei ihm untergehakt. Auf dem zweiten zog Paul ihren Kopf ganz nahe an den seinen. Das dritte Foto zeigte die beiden in inniger Umarmung. Das vierte und fünfte Bild wiederholte dieses Motiv aus wechselnden Perspektiven.
Das war alles. Mehr war auf dem Speicherchip nicht enthalten. Paul blickte stumpfsinnig auf den Bildschirm. Wieder und wieder schaute er sich die fünf letzten Fotos an. Er vergrößerte den Ausschnitt ihrer Köpfe. Details waren nicht zu erkennen, dafür war die Auflösung zu schlecht und das Licht zu bescheiden gewesen. Aber es sah ganz so aus, als ob Bea und er sich geküsst hätten. Und da die drei Bilder am Schluss dasselbe unveränderte Motiv zeigten, musste es ein langer Kuss gewesen sein.
Niedergeschlagen ließ Paul die Bilder von seinem Schirm verschwinden. Diese Aufnahmen hatten ihm nicht helfen können, im Gegenteil: Nun war klar, dass er sich mit Bea eingelassen hatte. Wie weit das gegangen war, konnte er nur mutmaßen. Er fühlte sich elend.
Ihm war danach, sich wieder auf seinem Sofa auszustrecken, die Decke über den Kopf zu ziehen und den Rest des Tages zu verschlafen. Seine Kopfschmerzen waren noch immer zu spüren, und unter Menschen wollte er heute auf keinen Fall mehr gehen.
Doch so verlockend es auch war, er legte sich nicht hin: Einem plötzlichen Impuls folgend, rief er die Fotodatei nochmals auf. Womöglich hatte er etwas übersehen, eines jener kleinen Dinge, die mitunter etwas auslösten. Vielleicht würde ein winziges Detail seinem streikenden Gedächtnis doch noch auf die Sprünge helfen.
Schon bei den ersten Bildern, denen vom Beginn des Abends, hielt er inne. Zu sehen war das andere Model. Eine schlichte Brünette, die den ganzen Tag über etwas im Schatten der blonden, impulsiven Bea gestanden hatte. Dieses andere Mädchen – Paul hatte sich nicht einmal ihren Namen gemerkt – hatte ja offensichtlich die letzten Fotos gemacht. Zwar hatte sie irgendwann aufgehört zu fotografieren. Gesehen aber hatte sie ganz sicher mehr! Vielleicht sogar mehr, als sie der Polizei gegenüber bisher preisgegeben hatte.
Paul musste sie
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