Paul, mein grosser Bruder
meinen Bruder kennenlernen. Ich will wissen, wer er ist. Wer er war, meine ich .«
Daniel schwieg eine lange Weile. Dann begann er zu reden. »Ich kann sehr gut verstehen, dass du deinen Bruder kennenlernen willst. Das verstehe ich wirklich. Du bist ... du bist ein bisschen romantisch, glaube ich. Und du möchtest dir ein Bild deines verstorbenen Bruders machen. Du möchtest, dass er dir näher ist. Das begreife ich, Jonas. Ich würde an deiner Stelle höchstwahrscheinlich dasselbe tun. Auch wenn ich wohl ein wenig zögern würde, bevor ich jemanden fragte. Andererseits, klar, wie solltest du ahnen, dass es vielleicht etwas gibt ... In der Vergangenheit zu bohren, kann wie das Umdrehen von Steinen sein; meistens findet man nur jede Menge ekliges Gewürm.« Er stand auf und sah mich an. »Was ich meine, ist, dass du bei deiner Suche vielleicht auf einige unangenehme Dinge stoßen könntest, von denen du lieber nichts gewusst hättest .«
Er steckte sich eine Zigarette an.
»Okay, Jonas. Machen wir es so. Du darfst mich fragen, was du willst. Aber ich verspreche nicht, dass ich dir antworten werde. Einverstanden?«
Ich wusste nicht, wo ich anfangen sollte. Also nahm ich den Brief und gab ihn Daniel. Er betrachtete ihn und las ihn langsam.
»Was für eine fremdartige Handschrift«, murmelte er.
»Genau das habe ich zuerst auch gedacht. Als ich sie zum ersten Mal gesehen habe, meine ich. Mittlerweile glaube ich, dass der Brief von jemandem geschrieben wurde, der in einem anderen Land schreiben gelernt hat. Aus diesem Grund finden wir, dass die Handschrift fremd ist. Ich glaube, dass er von jemandem aus der Tschechoslowakei geschrieben wurde .«
»Ach ja?«
»Das ist natürlich nur geraten«, fuhr ich fort. »Aber weil Princi Tschechisch ist und weil die Handschrift so anders ist...«
Ich beobachtete Daniel, während ich redete.
»Was glaubst du ?« , fragte ich.
»Vielleicht stimmt es ja .«
»Du hast mir doch erzählt, was Princi bedeutet. Du hast mir erzählt, dass es Tschechisch ist. Aber als du mir das erzählt hast, habe ich nicht daran gedacht, dich zu fragen, wieso du das weißt .«
»Ich wusste es nicht, bis Paul es mir erzählte«, sagte Daniel.
»Genau. Ich dachte es mir. Aber was hat Paul dir erzählt? Sagte er einfach nur, dass es Tschechisch ist? Sagte er nichts über die Person, die ihm das Wort beigebracht hat ?«
»Nicht viel.«
Er zögerte einen Moment.
»Doch, er sagte, dass die Person, die ihn Princi nannte, aus der Tschechoslowakei kam .«
Ich lächelte.
Daniel sah mich fragend an.
»Jetzt hast du es wieder getan«, sagte ich. Er fuchtelte mit den Armen.
»Was?«
»Du hast gesagt ... «
»Ja?«
Ich holte tief Atem, bevor ich antwortete. »Als du mir erzählt hast, dass sich jemand in Paul verliebt hat, habe ich gefragt, ob du wüsstest, wie sie hieß. Du hast gesagt, du erinnerst dich an keinen Namen. Und als ich dich gefragt habe, ob sie auf der Beerdigung gewesen wäre, hast du gesagt, dass -die Person, in die Paul verliebt war-nicht bei der Beerdigung gewesen ist. Und jetzt auch ... Gerade hast du gesagt, dass -die Person, die ihn Princi nannte-, aus der Tschechoslowakei kam .«
Ich wagte kaum weiterzureden. Daniels Augen fixierten mich.
»Ja ?« , sagte er kurz angebunden. »Und?«
»Ich glaube ... ich glaube, dass Paul in einen Jungen verliebt war. In einen tschechischen Jungen.«
Es wurde mucksmäuschenstill. Ich wagte kaum zu atmen.
Daniel war völlig blass. Er zog an seiner Zigarette, sah mich nicht mehr an.
»Es war doch so ?« , flüsterte ich.
»Ja. «
Ich seufzte erleichtert.
Daniel erhob sich und begann im Zimmer umherzugehen, steif und etwas wankend. Hin und wieder blieb er stehen, betrachtete etwas, berührte etwas. Eine Weile stand er am Bücherregal und betrachtete ein Bild, das ich aus Mamas Fotoalbum kannte, eine Kinderzeichnung von Daniel und Mama und einem großen russischen Windhund namens Durak. Ich erinnere mich noch immer daran, wie sie mir den Namen des Hundes nannte. »Er hieß Durak«, sagte sie. Ich fand, das klang märchenhaft, fast magisch.
Daniel drehte sich um, und unsere Blicke kreuzten sich.
»Also«, begann er, und seine Stimme klang anders als sonst. »Es stimmt. Es war ein Junge. Und er kam aus der Tschechoslowakei. Aber ich weiß tatsächlich nicht, wie er hieß. Paul hat sicherlich mal seinen Namen genannt, aber ich erinnere mich nicht mehr. Erinnere mich nur noch, dass er mit M anfing .«
Er sah mich an. »Jonas«, er
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