Paul, mein grosser Bruder
flüsterte fast, »wie konntest du das wissen ?«
Ich zuckte mit den Schultern. »Es war so ein Gefühl .«
»Aber ich war der Einzige, der es wusste«, sagte Daniel. »Ich war der Einzige, dem er es erzählt hat. Der Einzige, dem er es wagte zu erzählen. Sara wusste nichts. Sie weiß es immer noch nicht. Und Stefan auch nicht. Ich war der Einzige, der es wusste .«
»Wann hat Paul es dir erzählt ?« , fragte ich.
»Dass er ... ich meine ... «
Daniel nickte. »Daran erinnere ich mich sehr gut. Ich weiß sogar noch das Datum. Denn es war die Nacht vor Lucia. Der zwölfte Dezember 1968.«
»Nachts?«
»Ja. Nachts.«
»Erzähl !«
Daniel bat mich, ihm ein Bier aus dem Kühlschrank zu holen.
Ich schenkte ihm ein großes Glas ein und stellte es vor ihn hin.
»Danke. Nimm dir eine Limo oder irgendwas, wenn du möchtest .«
Ich schüttelte den Kopf.
»Nein danke. Ist gut so. Erzähl jetzt von Paul. Erzähl mir, was in der Nacht vor Lucia geschah !«
SECHS
»Es war die Nacht vor Lucia«, begann Daniel. » Ich erinnere mich sehr gut. Ich war hier, hörte gerade Radio. Sie brachten ein Gedenkprogramm über Jan Johansson. Du hast vielleicht schon mal von ihm gehört? Er war Jazzpianist. Er war einige Tage vorher bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Sie spielten Musik von ihm und erzählten über ihn. Und mitten während eines Stückes klopfte es an meine Tür. Ich dachte zuerst, jemand würde sich beschweren, dass mein Radio zu laut war, es war bereits halb zwölf. Ich drehte den Ton leiser und ging in die Diele. Bevor ich öffnete, hörte ich, dass jemand vor meiner Tür weinte. Ich öffnete. Paul fiel beinahe durch die Tür in meine Arme. Tränen liefen über seine Wangen. Er roch nach Alkohol. Alkohol und Tränen! Ich führte ihn herein, half ihm aus den Stiefeln und seiner Jacke.
Er lehnte sich an mich, als ich mich neben ihn setzte. Und er weinte noch mehr. ‚Aber, aber‘, sagte ich tröstend und legte meine Arme um ihn. Er wirkte so klein in meinen Armen, obwohl er fast genauso groß war wie ich. Er weinte eine Weile...«
Ich wartete - fast andächtig - darauf, dass er fortfahren würde.
»Als er aufgehört hatte zu weinen, fragte ich ihn, ob er etwas Warmes trinken wolle. Er war den ganzen Weg aus der Stadt hierher gelaufen, und es war kalt draußen. Er nickte und sagte, dass er gerne eine Tasse Schokolade trinken würde. Dann setzte ich mich wieder neben ihn, fragte ihn, was geschehen sei. Und Paul fing an zu erzählen. Er erzählte, dass er mehr an Jungen als an Mädchen interessiert wäre, dass er das seit vielen Jahren gewusst hätte, aber dass er die ganze Zeit, zumindest am Anfang, versucht hätte, diese Gefühle zu verdrängen. Dass er versucht habe, seine Gefühle zu unterdrücken, aber dass sie sich immer wieder bemerkbar machten. Am schwierigsten fand er das beim Sportunterricht in der Schule. Er sah all die anderen Jungs in der Klasse, im Umkleideraum und unter der Dusche nach der Sportstunde. Und er versuchte, nicht hinzuschauen. Aber es war schwierig.
Er erzählte, dass es in der Parallelklasse einen besonderen Jungen gab, für den er sich seit Langem interessierte. Ich glaube, er hieß Göran. Ja, Göran. Und Paul erzählte, dass auch Göran immer die anderen Jungen beobachtete. Er - also Göran - tat immer so, als seien die anderen Jungs -Bräute-. Er grabschte sie unter der Dusche an. Und lachte. Und Paul erzählte, dass Göran viel größer und stärker war als die anderen, sodass keiner wirklich wagte, ihm Widerstand zu leisten.
Ich sagte nichts. Zunächst zumindest nicht. Aber dann verstummte Paul. Er saß nur hier neben mir, wärmte sich seine Hände an der Tasse.
Und ich fragte ihn, ob gerade an diesem Abend etwas Besonderes passiert sei. Paul nickte. ‚Erzähl es mir‘, bat ich ihn. ‚Vielleicht kann ich dir helfen .‘ Und da lächelte er zum ersten Mal an jenem Abend .«
Daniel rieb sich die Augen.
»Kannst du dir das vorstellen, Jonas? Obwohl er so mitgenommen war, lächelte er .«
»Hat er erzählt, was passiert ist ?« , fragte ich. Ich war fast den Tränen nahe.
»Natürlich. Er erzählte, dass er zu einem Fest eingeladen war. Einem Luciafest. Es waren Freunde von Pauls Klassenkameraden, die das Fest in der Stadt veranstalteten. Es war ‚elternfrei‘. Paul ist mit einigen Freunden hingegangen. Sie haben getrunken, nicht viel, aber sie waren es nicht gerade gewohnt zu trinken. Paul war ziemlich blau. Gerade so viel, dass er sich traute, Göran
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