Paul, mein grosser Bruder
öffnete. Sein Blick traf meinen. Jetzt kommt's, dachte ich.
»Zum Teufel, Jonas !« , polterte er los. »Du kannst doch nicht nackt rumlaufen, wenn du krank bist. Dann wirst du ja nie gesund .«
»Ja, ich weiß. Aber ich musste dringend auf die Toilette .«
Ich verschwand in mein Zimmer, ließ das Foto, das ich in der Hand zusammengerollt hatte, unauffällig verschwinden. Ich zog mich an und ging zu Papa.
»Hast du immer noch Fieber ?«
»Nein, ich glaube nicht. Aber ein bisschen Kopfschmerzen und Schmerzen in der Brust.« Ich hustete ein bisschen.
Er faltete die Zeitung zusammen und kratzte sich an der Schulter. »Hast du den ganzen Tag im Bett gelegen ?«
Ich nickte.
»Langweilst du dich ?«
»Ja.«
»Kannst du denn nicht irgendwas lesen ?«
»Ja, schon. Aber ich habe keine richtige Lust dazu .«
»Dann musst du dir wohl was anderes einfallen lassen«, sagte er. »Etwas, das du im Bett machen kannst. Es ist wohl besser, dass du noch eine Weile im Bett bleibst. Du könntest ja zeichnen. Das habe ich immer gemacht, als ich klein war und krank im Bett lag. Oder schreiben. Ja, schau mich nicht so überrascht an. Du könntest zum Beispiel Briefe schreiben. An irgendeinen Freund. Oder an Großmutter. Oder vielleicht könntest du Tagebuch schreiben. Das hat Paul immer gemacht .«
Ich horchte auf.
»Paul hat Tagebuch geschrieben ?«
»Wusstest du das nicht ?«
»Nein, ich glaube nicht, dass mir das jemand erzählt hat .«
»Doch, er hat das über viele Jahre getan .«
»Wo ist sein Tagebuch ?«
Papa schüttelte den Kopf. »Das weiß ich nicht. Darüber habe ich nicht nachgedacht. Aber sie liegen bestimmt irgendwo. Entweder in seinem...« Er verstummte abrupt. Dann kicherte er und lächelte. »In deinem Zimmer, meine ich natürlich .«
»Glaubst du wirklich ?«
»Ja, entweder dort oder oben auf dem Dachboden. Ich weiß es nicht .«
Ich starrte ihn an.
»Du siehst nicht gerade gesund aus«, sagte er.
»Du solltest dich besser wieder hinlegen. Ich fahre wieder zur Arbeit. Ich wollte nur eben sehen, wie es dir geht .«
»Mir? Deshalb bist du nach Hause gekommen ?«
Ich fühlte mich beinahe peinlich betroffen; normalerweise war er selten besorgt.
»Ich lege mich jetzt wieder hin«, murmelte ich. In der Tür zur Diele drehte ich mich um. Papa lächelte und nickte mir zu.
»Danke !« , sagte ich leise.
ACHT
Die Haustür fiel ins Schloss . Papa war gegangen.
Ich lag in meinem Bett. Mein Herz raste; ich spürte, wie der Puls gegen meine Schläfen pochte.
Paul hatte Tagebuch geschrieben. Nicht auszudenken, wenn mir das entgangen wäre. Aber wo waren alle seine Tagebücher jetzt?
Ich sah mich im Zimmer um. Die Möbel waren - soweit ich wusste - dieselben, die Paul schon hatte, als das noch sein Zimmer war. Nur das Bett war neu.
Neben dem Bett standen ein Nachttischchen mit einer Schublade und dahinter ein alter Ledersessel, den ich selten benutzte. Vor dem Fenster stand ein Schreibtisch mit einem Schränkchen und drei Schubladen, und links vom Schreibtisch gab es zwei Bücherregale; das eine an der Fensterwand und das andere an der Wand, die an Mamas und Papas Schlafzimmer grenzte. Zwischen den Regalen und den beiden Kleiderschränken stand meine Kommode. Das waren alle Möbel in meinem Zimmer. Das waren die Möbel, die du in deinem Zimmer hattest, Paul. Also, wo könntest du dein Tagebuch versteckt haben?
Ich versuchte mich in deine Lage zu versetzen; tat so, als hätte ich ein Tagebuch, das niemand entdecken sollte. Wo würde ich es verstecken?
Ich hatte immer noch meine alte schwarze Blechkiste - meine Schatzkiste. Die war abschließbar und brauchte deshalb nicht versteckt zu werden. Trotzdem stellte ich sie immer auf den Boden des einen Kleiderschranks oder unter das Bett.
Wo hast du dein Tagebuch versteckt, Paul?
Ich suchte jedes einzelne Möbelstück ab; öffnete Schubladen und Schränke, fühlte an der Innenseite der Möbel in der Hoffnung, irgendwo ein Geheimfach oder ein festgeklebtes Tagebuch zu finden. Ich kletterte auf einen Stuhl und tastete die Oberfläche der Regale ab, aber fand nur Staub. Ich zog den Stuhl zu den Kleiderschränken und fand dort oben noch mehr Staub. Ich kletterte sogar auf den Schreibtisch, um an das Metallgitter der Belüftung zu gelangen. Aber das war fest geschweißt.
Ich fand kein einziges Tagebuch.
Das Einzige, was ich fand, war eine Plastiktüte mit Spielzeugautos, die ich selbst einige Jahre zuvor hinter die Bücher im Regal gestopft hatte. Die hatte
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