Pauschaltourist
Als ich mehrere Male schreiend mit der dunkelgrünen
Badehose in der Hand, an die ich mich, wie ich jetzt erstaunt feststellte, immer noch sehr gut erinnerte, davongerannt war,
um sie hinter irgendeiner Strandbude hastig überzustreifen, hatte meine Mutter damit aufgehört, mich zur Freikörperkultur
zu zwingen. Schamhaftigkeit ist es, was Menschen von anderen Säugetieren unterscheidet. Meistens jedenfalls. In der Hauptsache
außerhalb von Mallorca.
Und dann musste ich plötzlich an Silke denken, an die Leibesfrucht, wie man es so schön nannte, die sie in sich trug.
Unser Kind.
In zwei Jahren würde es auch nackig in einem Hotelpool planschen, wild schreien und mit vom Chlor geröteten Augen erst aus
dem Wasser kommen, wenn man ihm mit Liebesentzug drohte. Vorausgesetzt, Silke würde es nicht abtreiben, aber wenn ich ehrlich
zu mir war, wusste ich ziemlich sicher, dass diese Option für sie nicht |197| infrage kam. Kinder waren irgendwann ein Thema zwischen uns gewesen, in letzter Zeit zwar nicht mehr so oft, aber vor etwa
anderthalb Jahren in höherer Intensität. Ich war damals noch nicht so lange Sitz’ Rätselsklave, aber es zeichnete sich bereits
ab, dass mich der Job nicht ausfüllte, und Silke machte währenddessen gute Geschäfte, der Zeitpunkt, meinte sie, wäre passend
gewesen. Ich hatte es einfach ausgesessen, die Diskussionen versanden lassen, bis sie nicht mehr fragte. Ein Teil von mir
wollte, ein anderer hatte Schiss. Großen Schiss. Und jetzt tat sie es ohne mich. Ich blinzelte eine Träne weg und merkte erst
in diesem Augenblick, dass ich von Nina angestarrt wurde, deren Gesicht eine Mischung aus Belustigung und Mitleid zeigte.
»Alles okay?«
Ich nickte und rang mir ein Lächeln ab. »Bestens.«
Gegen sechs kehrten wir in unsere Zimmer zurück, um uns frischzumachen und für das Abendessen umzuziehen. Dieses Mal wussten
wir, warum und in welcher Fressabteilung wir anzutreten hatten – Schlag neunzehn Uhr nämlich.
Nach dem Duschen staunte ich über meine Bräune. Der Bereich, der tagsüber von meiner Badehose bedeckt wurde, hob sich deutlich
ab. Wie widerlich dieses Weiß gegen das satte, gesunde Braun meines Bauchs. Ich stutzte meinen ungleichmäßigen Bartwuchs auf
Zwei-bis-drei-Tage-Status und wuschelte durch meine kurzen hellbraunen Haare. Irgendwer – Silke? Natürlich Silke! – hatte
mich mal mit dem Schauspieler Florian Lukas verglichen. Auch der sah eher wie ein älterer Oberschüler aus als nach Anfang,
Mitte dreißig, wo ich sein tatsächliches Alter vermutete. Wir waren die Generation, die einfach nicht älter wurde. In jeder
Hinsicht.
Vor dem Speisesaal im Erdgeschoss des Haupthauses drängten sich bereits die Urlauber. Pünktlich um sieben öffneten Hotelmitarbeiter
die Glastüren, und dann stürmten die Touristen hinein, um gute Plätze in der Nähe des Bufetts zu ergattern oder die frischesten |198| Schnitzel und Pommesladungen abzugreifen. Wir blieben eine Weile in der Nähe des Eingangs stehen und versuchten, uns in der
riesigen Halle, die sich auch noch in mehrere Abschnitte unterteilte, zu orientieren. An langen Tischen, die angenehm dekoriert
waren, schluckte man im Akkord, um vor allen anderen die pyramidenweise gestapelten Desserts verschlingen zu können. Wir fanden
ruhigere Plätze am Ende eines Tischs, holten uns Suppen und aßen schweigend. Dann Salate, mehrere Hauptgänge und schließlich
massenweise Eis. Das Essen war gut. Jedenfalls besser als alles, was man uns bisher aufgetischt hatte. Vom höllischen Massenbetrieb
und etwas nüchternen Ambiente abgesehen ließ es sich in dieser Verköstigungsfabrik sogar aushalten.
Die Liegen rund um den Pool waren verschwunden, dafür hatte man Tische und Stühle aufgestellt. Zum Haupthaus hin gab es eine
große Bühne mit Lichttraversen und beeindruckenden Outdoorboxen, und dem Aufbau nach zu urteilen würde dort heute eine Band
in Orchesterstärke spielen. Die meisten Tische waren bereits besetzt, und zwischen ihnen wuselten Kinderscharen umher.
»Wir sollten Kontakte knüpfen«, schlug Nina vor.
Also wanderten wir zwischen den Tischen hindurch, bis wir einen fanden, an dem ein Pärchen saß, das ich auf Anfang vierzig
schätzte. Ich lag falsch. Peter war fünfunddreißig und Sabine, seine Verlobte, ein Jahr älter. Als wir saßen, kam ein strohblonder,
ziemlich fülliger Fünfjähriger angerannt und bettelte nach Eis. Das war Marius, Sabines Sohn aus der
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