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das so ist. »Kein Mensch kann die Beweisführungen der Computer in der Grundlagen-Mathematik mehr nachvollziehen, und selbst wenn es einer könnte, wie sollten wir ihm glauben?«, schreibt der preisgekrönte Mathematiker Steven Strogatz in einer beunruhigenden Analyse. 63 Strogatz warnt vor dem »Ende der Einsicht«. Man sollte sich nicht vom Wort »Mathematik« abschrecken lassen; das, was er über sein Fachgebiet sagt, ist nur ein Beispiel für unser aller Verhältnis zur Welt. Mathematik, so Strogatz, wird zu einem reinen »Zuschauer-Sport«: selbst der klügste Mathematiker kann nur noch beobachten, was der Computer berechnet, und sich seinen Resultaten anschließen.
Das wird nicht auf die Mathematik beschränkt sein, es hat dort nur zuerst begonnen. Der Verlust an Einsicht, der uns zwingt, die Wahrheiten der Computer anzuerkennen, ohne sie selbst überprüfen zu können, wird in die Physik und Biologie und von dort, so Strogatz' Befürchtung, in die Sozialwissenschaften und in unser Verständnis vom Leben wandern. »Wenn das Ende der Einsicht kommt, wird sich die Art, wie wir die Welt erklären, für immer ändern. Wir werden in einer Welt des Autoritarismus feststecken, nur dass die Diktatur nicht mehr aus der Politik oder von religiösen Dogmen kommt, sondern aus der Wissenschaft selbst.« 64
Babyboomer, die Geburtsjahrgänge zwischen 1955 und 1964, erinnern sich noch, wie besorgte Eltern und Lehrer »Micky Maus« verbieten wollten, weil Comics angeblich dumm machten. Die späteren Geburtsjahrgänge haben das mit Walkman, Fernsehen und MTV erlebt. Und hätten sie ihre Ururgroßeltern gesprochen, so hätten die ihnen gesagt, dass das Lesen von Romanen dem Gehirn schade. Alle diese händeringenden Sorgen sind heute widerlegt, und sie werden gern als Gegenbeweis angeführt, wenn neue Medien neue Befürchtungen auslösen.
Doch der Computer ist kein Medium. Er ist ein Akteur.
Der kanadische Philosoph Marshall McLuhan, der bis heute mit seinem Satz »Das Medium ist die Botschaft« zitiert wird, hat in den sechziger Jahren bemerkt, dass jede technische Revolution paradoxerweise auch eine Selbst-Amputation des Men schen ist. Das bezog sich auf Autos, die uns das Laufen, und auf Fernseher, die uns das Erleben abnehmen. Doch jetzt gibt es sogenannte »intelligente Agenten«, jene Computer-Codes, die Ihre Vorliebe für Rot mit Tulpen verbinden, und die uns zunehmend Denken und Entscheidungen abnehmen sollen - sie markieren das mögliche »Ende der Einsicht« im Alltag unserer Sucht nach Informationen. Es sind kleine Roboter, die uns wie digitale Butler das Denken und Vergleichen abnehmen sollen. Unsere Naivität behandelt sie wie Masochisten, die jeden Auftrag gern ausführen. In Wahrheit ist ihr Wesen, wie das der Computer, sadistisch. 65 Als die Informatikerin Pattie Maes im Gefolge der Romes den ersten dieser »intelligenten Agenten« für den Online-Handel entwickelte - unter großem Protest von Informatikern, die das Ende des freien Willens am Horizont auftauchen sahen -, beschrieb sie ganz offen, wie sehr die Selbst-Amputation zu den Nebenkosten der neuen Technologien gehört:
»Das ist der Preis jeder Technologie, die irgendetwas für uns automatisiert. Denken Sie an den Taschenrechner. Wir haben die Aufgabe des Rechnens an den Computer übertragen, und das ist ohne Frage eine Amputation, denn vor 20 oder 30 Jahren
konnten
die Menschen diese Aufgaben im Kopf lösen.«
Das klingt schon wieder nach dem üblichen Jammer über die Verblödung der Welt, aber Maes ist sehr viel konkreter. Was genau ist es, was wir verlieren, indem wir etwas gewinnen? »Diese Menschen hatten«, so Maes, »alle möglichen Tricks, alle möglichen Heuristiken in ihrem Kopf, die wir heute nicht einmal mehr kennen. Sie sind für die Gesellschaft verloren.« 66
»Heuristiken« sind einfache Denkstrategien, die wir alle benutzen, um unter Zeitdruck sehr schnell ein Problem zu lösen - auch beim Bombardement durch das Multitasking nutzen wir diese Methode. Jeder kennt diese Strategien aus Situationen, in denen er zum Beispiel unter Zeitdruck viele Informationen ignoriert, um mit wenigen eine Lösung zu finden. Fernsehshows wie »Wer wird Millionär« zeigen sehr gut Heuristik-in-Action, nämlich dann, wenn Kandidaten, die die Antwort nicht wissen, durch Ausschlussverfahren und Kombinationsstrategien die richtige zu finden versuchen. 67
Pattie Maes begründete ihre »intelligenten Agenten« damals damit, dass wir zwar noch im Kopf
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