Payback
Jahrhunderts vor, in denen, wie bei einem Ballett, alle Kräfte ineinandergreifen mussten.
All das können wir getrost auf uns übertragen, und darum fühlt sich mancher, der heute von Maschinen und Gesellschaft wie selbstverständlich zum Multitasking gezwungen wird, an die Ausbeutungsökonomie der Vergangenheit erinnert. Der Muskel aber ist das Gehirn. Es war schwer genug, die Muskeln an die Räderwerke der modernen Fabriken anzupassen. Es ist viel schwerer, die Neuronen und Ganglien unseres Gehirns anzupassen. Aber alles ist wie damals: Die Informationen liefern die Kalorien, und ihr Wert für die geistige Leistung liegt in ihrer Verwertbarkeit. Vielleicht wird man eines Tages Diätpläne für den Informationskonsum aufstellen, und aller Wahrscheinlichkeit nach werden sie ebenso widersprüchlich sein wie die »Fit for Fun«-Bibliotheken der Gegenwart.
Die kalorischen Verbrennungszahlen sind Maschinensprache. Sie kommen unserer Liebe für die totale Berechenbarkeit von Informationen entgegen. Ob jemand 110 Kalorien aus einer Portion Cornflakes verbrennt, wie es auf jeder Packung steht, ist, wie wir mittlerweile wissen, von Mensch zu Mensch höchst verschieden. 134 Genauso wenig werden wir den Wert von Informationen berechnen können. Es gibt Menschen, die aus einem Computerspiel Nutzen ziehen können und gleichzeitig aus einem wissenschaftlichen Text auf Google-Scholar. Es ist an der Zeit, die trügerische Verankerung unserer Lebenssicherheit in Zahlen zu durchschauen. Jetzt geht es um das, was jeder tut, wenn er zu viel Kekse gegessen hat. Es geht um Krafttraining für den Muskel der Selbstkontrolle.
WIR SIND BLIND FÜR DAS, WAS WIR NICHT ERWARTEN
ie meisten Menschen glauben, man konzentriere seine Aufmerksamkeit so, als sei das Hirn eine Kamera: ruhig halten, fokussieren, abwarten, auslösen. 135 Wir lernen in der Schule, dass »aufmerksam sein« bedeutet, seine Gedanken nicht abschweifen zu lassen. Nach allem, was die Forschung heute dazu weiß, ist dies wohl einer der gefährlichsten Irrtümer von Erziehung und Selbsterziehung. Ablenkung führt zu Perspektivwechseln, die neue Gedanken und Ideen freisetzen und sogar die Gesundheit nachhaltig verbessern können. Diese Form der Aufmerksamkeit, ein Relikt der Lehren des Frederick Taylor, führt zu Erschöpfung und Langeweile. Das Problem unserer Ablenkungen besteht nicht darin, dass sie uns ablenken, sondern dass die Ablenkung statt zur Befreiung nur zur Fleißarbeit wird.
Schauen Sie auf dieses E . Haben Sie das lang genug getan, beginnen Ihre Augen zu flimmern. So ergeht es uns auch mit Gedanken oder einer Idee, auf die wir uns zu lange konzentrieren. Sie verschwimmen an den Rändern. Wenn wir unscharf sehen, gehen wir in kleine stille Läden - Läden für die Augen, nicht für die Gedanken -, wo ein freundlicher Verkäufer uns auffordert, 66 etwas eigenwillig gestaltete Buchstaben zu lesen.
Ein sonderbarer Text, denn er ist nur gemacht, damit wir ihn nie zu Ende lesen können. Er beginnt leicht und munter und wird immer schwieriger und am Ende unlesbar. Nicht nur ein Text also, fast eine Lebensphilosophie. So sieht er aus:
Die Snellen-Augentafel ist so etwas wie eine algorithmische Rechenmaschine im Kleinen, und sie dient seit weit über hundert Jahren, um unsere Sehschärfe zu bestimmen. Sie ist eines der vielen Hilfsmittel, die, wie Stephen Baker es formulierte, die »maschinenähnlichen Teile in unserem Leben« auf Verschleiß unters uchen und fast kein Mensch denkt mehr groß über sie nach.
Und gerade das ist das Problem, denn sobald wir aufhören, aufmerksam zu sein, werden Routinen und Automatismen in Gang gesetzt oder kurz: Algorithmen. Manche sind hilfreich, etwa beim Straßenverkehr, aber unter dem Eindruck einer computerisierten Welt wird die ganze Welt zum vorformulierten Rezept, das keinen Raum mehr für Anderes lässt. Eine Gruppe von Forschern an der Harvard-Universität haben sich gefragt, was es mit diesem Automatismus des Nicht-Nachdenkens auf sich hat. Vielleicht sollte man, so ihre Überlegung, über den versteckten Algorithmus in Snellens Augentafel einmal nachdenken. »Wir glauben«, schreibt die Psychologin Ellen Langer, die das folgende Experiment durchführte, »dass es Zeit ist, die nicht-algorithmischen Dimensionen des Denkens zu untersuchen«. 136 Könnte es sein, dass die Automatismen, in denen Menschen immer schon zu wissen glauben, was sie erwartet, ihnen buchstäblich den Blick auf ihre eigenen Möglichkeiten verstellt?
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