Payback
Denn wir denken permanent an die Informationen, die uns entgangen sind oder die auf uns warten könnten.
Baumeister lud Testpersonen unter dem Vorwand ein, Geschmackstests für Marketingforschungen durchzuführen. Um die Ergebnisse nicht zu verfälschen, sollten die Kandidaten drei Stunden vor dem Experiment keine Nahrung mehr zu sich genommen haben. Im Laboratorium hatten die Wissenschaftler unterdessen alle notwendigen Vorbereitungen getroffen. In einem Ofen wurden Schokoladenkekse gebacken und der Raum war erfüllt von dem Geruch von Schokolade und Gebäck. Dann wurden den Testteilnehmern die Kekse und eine Schale mit weißem und rotem Rettich vorgesetzt. Der Experimentator erzählte, wie er selbst sagt, seine »Cover story«: Der Geschmackstest erfordere, dass die Kandidaten ausschließlich ein paar Scheiben Rettich, aber keine Kekse essen (und umgekehrt: Kekse, aber keinen Rettich). Die Kandidaten wurden fünf Minuten alleine gelassen, dabei allerdings beobachtet, dann kehrte der Wissenschaftler zurück und unternahm, aus statistischen Gründen, wie er sagte, eine Reihe Tests. 127
Was geschah? Es stellte sich nach acht solcher und ähnlicher Experimente (zum Beispiel die Anweisung, jeden Gedanken an einen »weißen Bären« zu unterdrücken) heraus, dass schon ein geringfügiger Akt der Selbstkontrolle - die Kekse nicht anzurühren - die Fähigkeit eines Menschen ernsthaft erschöpft, sich einer weiteren, völlig anders gearteten Aufgabe konzentriert zu widmen. So gaben die Probanden, die auf die Kekse verzichten mussten, bei einem schwierigen (tatsächlich unlösbaren) Puzzle sehr viel früher frustriert auf als die anderen Teilnehmer. Andere hatten nicht einmal mehr die Energie, lösbare Rätsel zu lösen. Selbstkontrolle scheint, wie das Wort »Willenskraft« verrät, wie ein Muskel zu funktionieren, und wie ein Muskel verfügt sie nur über eine erstaunlich begrenzte Spannkraft. Wer in den Experimenten aufgefordert wurde, einen bestimmten Gedanken zu unterdrücken (den an den weißen Bären), konnte bei einer anschließend gezeigten Film-Komödie, vor deren Vorführung die Testpersonen gebeten wurden, möglichst ernst zu bleiben, die Aufgabe nicht mehr erfüllen. In einem weiteren Versuch konnten Personen sich nach konzentriertem Korrekturlesen nicht mehr dazu aufzuraffen, einen todlangweiligen Fernsehfilm abzuschalten. Und wer sich in Tests dazu zwingen musste, möglichst keine Gefühle bei der Informationsaufnahme zu zeigen
- zum Beispiel bei einem Film -, war danach kaum mehr in der Lage, kleinere Worträtsel zu lösen. 128
Diese Ich-Erschöpfung überkommt eine von Informations-Reizen überflutete Gesellschaft eben nicht nur bei Fragen der Ernährung, Gesundheit, der realen Welt, sondern viel mehr noch bei allen Fragen des Informations-Konsums. Das verstärkt sich, wenn die Web-Designer immer stärkere Reize setzen, die der Verführungskraft von Dingen entspricht, die man haben will, aber die man nicht haben sollte. Unser Verhalten ist vergleichbar mit Impulskäufen im Kaufrausch.
Also sind wir unablässig gezwungen, Akte der Selbstkontrolle auszuführen, und die meisten Reize kommen von den Bildschirmen, aber nicht mehr aus der realen Welt - da stehen keine Kekse mehr, sondern es vibriert die SMS und der Gedanke, ob es höflich ist, sie nicht gleich zu beantworten, oder es wartet der Link, der zu Abertausenden anderen führt, von denen jeder ein darwinistischer Schalter ist, der, wenn man ihn drückt, seinen immer besser perfektionierten »Informations-Duft« verströmt. Wir wittern und krabbeln los, wie der Getreideplattkäfer, aber wir krabbeln im Kreis. Denn wir können nicht aufhören. Eine wartende Mail, die SMS, das Wissen um sich ständig aktualisierende Informationsinhalte auf den Lieblingswebseiten, der Facebook-Update, der Youtube-Link und all die anderen Multitasking-Anforderungen zwingen uns, wenn wir ihnen nicht allen folgen, den Gedanken an sie zu unterdrücken. Das ist das böse Spiel, das der junge Fjodor Dostojewski mit seinem Bruder spielte: »Denk jetzt nicht an den weißen Bären«. Sein Bruder soll Stunden danach verwirrt gewesen sein. Wie jeder weiß: Wenn wir den Gedanken an etwas unterdrücken, denken wir daran.
Man kann sich nicht auffordern, nicht an etwas zu denken. Der weiße Bär steht immer schon im Zimmer und blinkt. Wir befinden uns in diesem Augenblick gewissermaßen an der existenziellen Klippe der Informationsgesellschaft am Rande der Zwangshandlung: Wir wissen
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