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korrekte Zeit nennen. Bei der analogen Uhr tauchen vage Formulierungen auf wie »kurz nach«, »gleich ist es« usw. 144
Sogar für die körperliche Regenerationsfähigkeit macht es manchmal einen großen Unterschied, ob medizinische Diagnosen als Information oder Möglichkeit weitergegeben werden. Worte wie »vielleicht« oder »womöglich« spielen dabei eine Rolle, doch sind die meisten Menschen nicht mehr in der Lage, darin offene Möglichkeiten zu erkennen. Die beiden französischen Psychologen Jean-François Bonnefon und Gaëlle Villejoubert haben in einer Studie Ärzte aufgefordert, sich sehr viel klarer über die Grenzen ihres Wissens zu äußern. Es stellt sich bei ihren Experimenten heraus, dass ein einfaches »vielleicht« nicht ausreicht, um Unsicherheit auszudrücken. Werden Menschen harmlose Diagnosen gestellt (»Sie werden vielleicht nicht schlafen können«), interpretieren sie die Einschränkung als Möglichkeit, oft sogar als Unwahrscheinlichkeit. Bei ernsten Diagnosen (»Sie werden vielleicht taub werden«) empfinden Menschen das »vielleicht« als einen Ausdruck des Takts und der Höflichkeit und neigen dazu, das Allerschlimmste zu befürchten. 145
Unser Glaube daran, dass unser Leben eine berechenbare Information ist, hat Folgen: Die »Aufmerksamkeitsdefizite« betreffen uns selbst und die Art, wie wir uns sehen.
Seit den siebziger Jahren sucht Ellen J. Langer nach einem Ausweg aus unserem selbstgebauten Gefängnis.Von ihr stammt das Experiment mit der Augentafel, und es ist nur eines von vielen, die zur Grundlage ihrer Theorie von »Mindfulness« wurden. 146 Eines von Langers spektakulärsten Experimenten ist die »Counter-Clockwise«-Studie. Wörtlich: »Die Gegen-den-Uhrzeigersinn-Untersuchung«. Wir werden sie uns nachher genauer anschauen. Im Kern geht es um Folgendes: Wir können die Informationsflut nicht bändigen, aber wir können lernen, ohne Ich-Erschöpfung aufmerksam zu werden. Wir können
ohne
Anstrengung und auch ohne meditative oder mystische Verfahren den Muskel Selbstkontrolle stärken. Und dies gelingt im besten aufklärerischen Sinne durch Denken und Perspektivwechsel. Langer nennt das »Mindfulness«, was in Deutschland mit »Achtsamkeit« übersetzt wird, aber der von allen pädagogischen Ermahnungen befreite Begriff »Aufmerksamkeit« trifft es besser.
Langers Arbeit ist untrennbar mit dem Aufkommen der Computer verbunden. Sie war eine der Ersten, die ihre Bedeutung klar erkannte, und bis heute hält sie es für undenkbar, dass wir auf Computer verzichten. Eben deshalb - weil die Antwort nicht Abschaffung sein kann - plädiert sie umso nachdrücklicher dafür, dass wir Wege finden müssen, um dem Zwang von Berechenbarkeit,Vorhersage und Kontrolle zu entgehen.
Menschen können »geweckt« werden, sie reagieren, wenn sie mit einer anderen Perspektive konfrontiert werden. Sie sind bereit, ihre eigenen Annahmen infrage zu stellen und neu zu denken. Das allerdings setzt voraus, dass sie begreifen, dass keine Information Ungewissheiten beseitigt, sondern dass Ungewissheiten die Voraussetzung ihrer Freiheit ist.
DAS COUNTER-CLOCKWISE-EXPERIMENT
chärfen wir für einen Augenblick unser Gefühl für das Unmögliche. Im Jahre 1979 - »das letzte Jahr vor dem digitalen Tsunami« (Bill Gates) - führte Langer ihre »Gegen-den-Uhrzeigersinn«-Studie durch. Ein Experiment, das so ziemlich allem zuwiderlief, was wir an ähnlichen Experimenten kennen, und deshalb nur mit erstaunlicher Verzögerung in der Wissenschaft rezipiert worden ist. 147 Langer suchte sich eine Gruppe, die traditionell am schwächsten Glied der Informationskette steht: alte Leute, die von dem auf sie einströmenden Neuen überfordert scheinen. Sie scheitern als Empfänger von Nachrichten, weil sie schlecht hören, sie können kaum mehr Aufgaben gleichzeitig erledigen, und sie scheitern auch als Absender, weil sie nicht oder falsch verstanden werden. Sie sind gleichsam lebende Informationsartefakte: Sie haben alles schon einmal gehört. Ihr Aufmerksamkeits-Muskel scheint erschlafft, und die Ich-Erschöpfung kann bei ihnen chronische Züge annehmen. In gewisser Weise sind sie Symbole der Informationsüberflutung auch in Zeiten, als es noch keine Computer gab.
Langer hat einen drehbuchreifen Plan: Was würde geschehen, wenn man den alten Menschen die Kontrolle über die Informa-tionen zurückgeben würde, indem man die Uhr psychologisch zurückdreht? Sie beschloss, die Welt von 1959 wieder zum Leben zu
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