Peacemaker
eine nach jahrelangem Gebrauch abgenutzte Halterung aus Holz zur Gewehrreinigung.
Abgesehen davon, dass gelegentlich eine neue Waffe hinzukam, veränderte sich in dem Zimmer nie etwas. Gideons Vater war ein Mann mit festen Gewohnheiten und genauen Vorstellungen. Platz für alles und alles an seinem Platz. Schon die geringste Abweichung von seiner Routine löste augenblicklich fürchterliche Wutanfälle bei ihm aus. Man klopfte nicht an die Tür oder verursachte irgendein lautes Geräusch, wenn sich Vater im Waffenzimmer aufhielt.
Mit fünf Jahren bekam Gideon seine erste Schusswaffe, eine Marlin .22. Er lernte früh, dass ihm eine Sache – und nur eine Sache – die Zuneigung seines Vaters sicherte. Diese eine Sache war gutes Schießen. Wenn man mit Vater zum Schießplatz ging, wurde nicht herumgealbert, nicht gesprochen, nicht gelächelt und nicht mit den Füßen gescharrt. Man lud und feuerte. Mit Präzision und Zielgenauigkeit.
Von dem Augenblick an, als Gideon die Marlin .22 zum ersten Mal in die Hand nahm, wusste er, dass er eine Begabung hatte. Tontaubenschießen, Luftpistolenschießen, Benchrestschießen, Stehendschießen, Liegendschießen, Pistolenschießen, ganz egal. Er besaß sie, die magische Koordination von Auge, Gehirn und Finger, die es ihm ermöglichte, mit einer Waffe zu zielen und zu treffen, was er treffen wollte. Killen war das Wort, das sein Vater benutzte.
Während der ersten drei Jahre gab ihm sein Vater Anweisungen. Danach brauchte er sich nur noch ans Spektiv zu stellen und den Jungen machen zu lassen. »Gut gekillt, mein Sohn«, flüsterte er jedes Mal. »Gut gekillt.«
Tillman dagegen hatte Mühe, auf dem Schießplatz mitzuhalten. Im Vergleich zu jedem anderen Jungen schoss er hervorragend und traf eine Tontaube nach der anderen. Doch das tat er mit zusammengebissenen Zähnen, und er scheute sich vor den ständigen prüfenden Blicken seines Vaters. Jeder Fehlschuss brachte ihm einen Klaps auf den Hinterkopf ein, dass ihm die Ohren klangen, einen Kniff in die Innenseite seines Oberarms oder – am schlimmsten von allem – ein paar scharfe Worte. Diese reichten von »nutzloser Idiot« bis »du bist nicht mein Sohn, Junge«. Immer im Flüsterton. Selbst in größter Rage erhob Vater niemals die Stimme.
Doch die Wut war immer da. Wenn er einen Wutanfall bekam, ging er auf jeden los, der sich in Reichweite befand. Auf jeden, außer auf Gideon. Auch ihre Mutter bekam seinen Zorn manchmal zu spüren, doch Tillman war immer das Hauptziel ihres Vaters. Gideon hatte lange gebraucht, bis er es begriff, aber Tillman wurde nicht zufällig heruntergemacht und geprügelt und beschimpft. Als der Ältere von ihnen beiden hatte Tillman stets zwischen ihrem Vater und Gideon gestanden – und dessen Zorn und Prügel eingesteckt, um seinen jüngeren Bruder zu schützen. Genau genommen war Tillman während seiner gesamten Kindheit Gideons Beschützer gewesen, ob vor Mitschülern, die ihn schikanierten, oder vor Gegenspielern auf dem Football-Feld. Dank Tillman legte sich niemand mit Gideon Davis an. Andere begriffen, wer Gideon Davis ein Bein stellte, wurde im nächsten Spiel von Tillman Davis zu Fall gebracht.
Erst als Gideon älter wurde – und sich zunehmend von seinem Bruder entfremdete –, wurde ihm bewusst, was dieser Schutz Tillman gekostet hatte, wie viel Schmerz dieser seinetwegen ertragen hatte. Die Erkenntnis kam nur langsam und widerwillig, doch letzten Endes verstand Gideon, dass ihm nur Tillmans Selbstaufopferung den Freiraum verschafft hatte, der es ihm ermöglicht hatte, zu dem Menschen heranzuwachsen, der er war.
Das war eine Schuld, von der Gideon wusste, dass er sie nie hinreichend zurückgezahlt hatte.
Gideons Vorfahren hatte einst halb Yancey County in Virginia gehört, eine ländliche Gegend westlich von Washington. Doch eine Reihe schlechter geschäftlicher Entscheidungen hatte die Familie ihren Landbesitz gekostet, sodass Gideons Vater nur noch deren Haus und das kleine Grundstück geblieben war, auf dem es stand. Anfang der 1970er-Jahre veräußerte Gideons Vater, was noch übrig war, und investierte den Erlös in ein letztes spekulatives Projekt, das schnell scheiterte.
Eine Woche vor Gideons vierzehntem Geburtstag ging schließlich alles den Bach hinunter.
An dem Tag, an dem die Bank sein Büro pfändete, kam Gideons Vater nach Hause, parkte seinen Cadillac vor der Tür, schloss den Waffenraum auf, holte die alte Remington 10 heraus, ging ins Schlafzimmer und schoss
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