Pechvogel: Roman (German Edition)
gebrochenen Knochen und voller Blut, mit Splittern vom Sicherheitsglas im Haar, den Kopf zur Seite gewandt, den Hals unnatürlich verdreht. Mir ist damals nichts passiert. Nicht mal ein Kratzer. Schon mit neun Jahren hatte ich die hohe Kunst des Wilderns erlernt.
Rein äußerlich sieht meine Haut aus wie die jedes anderen. Ich schwitze, bekomme Sonnenbrand, schneide mich an scharfen Papierkanten, ziehe mir Wunden zu oder schürfe mir die Knie auf. Aber meine Haut heilt schneller als die anderer. Vielleicht habe ich mehr Keratin oder Kollagen. Oder zusätzliche Zellen, die für die Immunabwehr zuständig sind. Doch ganz gleich, was dafür verantwortlich sein mag, dass meine Haut schneller heilt: Dieses Etwas ist es, das mich das Glück anderer Menschen absorbieren lässt, wenn ich ihre Hand mit der meinigen umschließe.
Man kann nicht einfach jemanden am Arm oder Bein oder einer entblößten Hautstelle anfassen und ihm so das Glück stehlen. Doch Händeschütteln ist – zumindest in den USA – eine völlig normale Geste. Ein Zeichen von Freundschaft und Wertschätzung. Die meisten Menschen schütteln Fremden die Hand, ohne lange darüber nachzudenken. Und so muss man sich selbst auch keine Gedanken darüber machen, und – puff! Schon ist es weg, das Glück.
Und der Bestohlene merkt nichts davon.
Natürlich können normale Leute Glück weder messen noch bestimmen. Deshalb kann einem auch niemand beweisen, dass man anderen ihr Glück gestohlen hat. Viele Menschen glauben nicht einmal, dass es so etwas wie Glück überhaupt gibt. Glück, sagen sie, sei doch nur ein Konzept, das man sich ausgedacht habe, um zu erklären, warum manche Menschen ein behütetes Leben führen, während andere von einer Katastrophe in die nächste stolpern. Aber sie irren sich. Glück existiert. Ob eine Person allerdings viel oder wenig davon hat, liegt nicht daran, dass sie etwas falsch oder richtig gemacht hätte. Es hat weder etwas mit Karma noch mit Schicksal zu tun und ist auch kein uralter Fluch.
Menschen werden einfach so geboren – mit viel oder mit wenig Glück.
Diejenigen, die genetisch nicht damit gesegnet wurden oder die mehr davon haben wollen, kaufen es auf dem Schwarzmarkt. Aber auch wenn man gutes Geld bezahlt hat, um mehr Glück zu bekommen, kann es für diejenigen, die nicht mit diesem Glück geboren wurden, unberechenbar sein. Wankelmütig. Vermutlich wird das Glück deshalb oft als Frau dargestellt. Und es ist, wie Mick Jagger in Running out of luck singt: Manchmal verlässt einen das Glück einfach.
Allerdings: Wer damit geboren wurde, dem geht das Glück niemals aus. Es sei denn natürlich, jemand wie ich kommt vorbei und nimmt es sich.
Manchen Menschen ist auch das Pech in die Wiege gelegt, aber es ist keine gute Idee, Pech zu wildern. Das ist, als ob man einen unerwünschten Gast zu sich nach Hause einlädt, um dann festzustellen, dass er vorhat, den Rest seines Lebens mit einem zu verbringen.
Aber bloß weil es eine schlechte Idee ist, heißt das noch lange nicht, dass es nie jemand versucht hätte. Denken Sie nur an das Debakel um den Ford Edsel. Oder an den Film Battlefield Earth – Kampf um die Erde. Die Geschichte der Menschheit ist eine Geschichte voller Fehlentscheidungen.
Vertrauen Sie mir. Ich weiß, wovon ich rede.
Ich bin nicht Privatdetektiv, weil ich einer sein möchte. Aber nachdem ich Tucson verlassen hatte, musste ich irgendwie meine Rechnungen bezahlen. Und der Beruf des Detektivs schien zu passen, denn schließlich hatte ich bereits fünfundzwanzig Jahre Erfahrung darin, andere Menschen zu beobachten. Nur dass ich nie gedacht hätte, dass es so langweilig werden würde.
Bei meinem aktuellen Auftrag geht es zum Beispiel um verdächtige Versicherungsfälle. Das ist in etwa so spannend wie Hafergrütze. Statt im Internet zu recherchieren, surfe ich also im Netz und suche nach Menschen, die dem Tod ein Schnippchen geschlagen haben, plötzlich reich wurden oder bei Preisausschreiben gewonnen haben.
Anders gesagt: Ich suche Opfer.
Vor zwanzig Jahren war die Opfersuche viel aufwendiger. Man ging in Büchereien und las die überregionalen Zeitungen. Man wartete auf die abendlichen Lokalnachrichten. Hörte Radio. Musste richtig arbeiten und viel Zeit auf der Straße verbringen, immer in der Hoffnung, dass kein anderer Wilderer einem zuvorkam.
Aber dank des Internets, Nachrichtensendern mit 24-Stunden-Programm und eines endlosen Informationsflusses muss man nicht mal mehr seine Wohnung
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