Pechvogel: Roman (German Edition)
Kaffee von Starbucks aus dem Tiefkühlfach holt und die Phiole mit Pech in die Packung hineinsteckt, entscheide ich mich, unsere Wilderer-Beziehung zu vertiefen und ihm zu erzählen, wie viel wir gemeinsam haben.
»Ich hab mal Pech gewildert«, sage ich.
»Tatsächlich?«
Ich nicke, auch wenn er mich nicht ansieht. Was ich zu schätzen weiß, denn es ist mir viel lieber, wenn er sich auf das Verpacken des Pechs konzentriert.
»Vor drei Jahren in Tucson. Ich hab so einen Auftrag angenommen. Hochkarätiges Pech für eine halbe Million Dollar. So viel Geld hatte ich noch nie gesehen. Und das bekam man damals nicht mal für zehn Portionen weiches Glück höchster Güte. Was bedeutet, dass ich das Angebot einfach nicht ablehnen konnte.«
Ich habe das noch nie jemandem erzählt. Nicht einmal Mandy, denn sie hätte mich nur einen Idioten genannt. Und recht damit gehabt.
»Es hat mich krank gemacht«, fahre ich fort. »Ich hatte Krämpfe und Schüttelfrost und konnte drei Tage lang nicht aufhören zu kotzen. Ich hatte Verfolgungswahn und dachte, dass man mich beobachtet. Und in meinen Träumen krabbelten Käfer über meinen Körper, bis ich schreiend aufwachte. Es hielt fast eine Woche an. Dann erst begann ich langsam, mich wieder etwas besser zu fühlen. Ich wollte nur noch eins: die von mir selbst dort deponierte Kohle aus dem feuerfesten Safe in meinem Apartment holen, um mir etwas zu essen und neue Unterwäsche zu kaufen. Aber das Geld war nicht mehr da. Ich habe keine Ahnung, was damit passiert ist. Es war einfach weg.«
Ich hole tief Luft und erzähle weiter: »Den ganzen Tag habe ich damit verbracht, meine Wohnung zu durchsuchen. Raum für Raum habe ich alles auseinandergenommen, hab in meinen Klamotten, Möbeln und meiner Einrichtung gesucht – überall, wo ich das Geld hätte versteckt haben können. Ich habe sogar die Wände und den Boden aufgerissen, weil ich dachte, dass ich in meinem kranken, paranoiden Delirium versucht haben könnte, das Geld dort irgendwo unterzubringen. Aber mein einziger Lohn nach dieser Verwüstungsaktion war die Kündigung für mein Apartment. Und deshalb bin ich hergezogen«, sage ich. »Schließlich bin ich wieder auf die Beine gekommen, aber ich kann die Wirkung des Pechs immer noch nicht ganz abschütteln. Diesen Auftrag anzunehmen war die katastrophalste Entscheidung meines Lebens.«
Der Albino antwortet nicht, sondern packt weiter gemahlenen Kaffee um die Phiole mit dem hochkarätigen Pech. Eigentlich wollte ich ihm mit meiner Geschichte zeigen, wie viel wir gemeinsam haben, aber ich vermute, stattdessen habe ich ihn beleidigt.
Ich will mich gerade entschuldigen, als er sagt: »Hätte schlimmer sein können.«
Er führt das nicht weiter aus oder gibt Details seiner Existenz preis. Aber er muss mir auch gar nicht sagen, dass genau das sein Leben ist: von Stadt zu Stadt und von Dorf zu Dorf zu ziehen, in Apartments ohne Möbel zu leben, mit Schimmel und abblätternder Farbe und leeren Schränken. Unterwegs auf der Straße, auf der Suche nach den Hoffnungslosen und Verlorenen, den Entfremdeten und Einsamen.
Kein Lachen, Intimität oder Freude. Keine Familie, Liebe oder Freunde.
Keine Jill. Keine hundert Mann. Keine sieben Zwerge.
Und ich merke, dass er gar nicht so anders ist als ich.
»Wie wilderst du Pech?«, frage ich.
»Ganz einfach. Durch Berührung.«
»Ich weiß. Ich meine, wie schaffst du das, ohne dass es dir permanent schlecht geht? Ohne dass es dich krank macht?«
Er dreht sich um, schaut mich mit leerem Blick an und zuckt die Schultern. »Ich tue es einfach.«
Ich vermute, dass er gar nicht versteht, wie oder warum er das tut, was er tut. Ebenso wenig, wie ich verstehe, was ich tue. So sind wir einfach. Und ich frage mich, ob wir existieren, um einander auszugleichen. Das Glück und das Pech. Das Yin und das Yang. Das Licht und das Dunkel. Und langsam beginne ich mich zu fragen, auf welcher dieser beiden Seiten ich selbst stehe.
Der Albino erleichtert die Leute um ihr Pech, befreit sie von der Last und macht ihr Pech zu dem seinigen. Ich hingegen lege anderen Steine in den Weg, nähre mich von ihrem Glück und verbessere mein Dasein auf ihre Kosten. Anders gesagt: Ich helfe den Menschen nicht gerade dabei, ein besseres Leben zu haben.
Ich bin nicht Jesus oder Mutter Teresa.
Ich bin eher das Kind, das immer seinen Willen bekommt und schließlich zu einem Erwachsenen heranwächst, der glaubt, er hätte das Recht, alles zu tun, was er will.
Der Albino
Weitere Kostenlose Bücher