Pedro Juan Gutiérrez
alles vergaß, sein bisheriges Leben hinter sich ließ und sechs Stunden später in Miami einlief. Sie hatte nie wieder von ihm gehört, wusste nur, dass er in New Jersey lebte und dass es ihm gut ging.
Ihr Sohn war fünf, und Clotilde konzentrierte sich ganz auf ihn und hoffte weiter auf eine Nachricht von ihrem Mann. Aber Zentral-Havanna ist kein geeigneter Ort, um einen Jungen großzuziehen. Er ging von der Schule ab, jobbte hier und da oder tat überhaupt nichts. Eines Tages kam er mit einem Holzkoffer voller Zaubertricks an: hohle Würfel, Doppeltrichter, Trickflaschen, ein Hut mit Versteck. Der Koffer war außen mit silbernen Sternen bemalt, und in großen Buchstaben stand darauf: »Zauberer Cherry«. Er wollte Zauberkünstler in einem Zirkus werden und übte jeden Tag. Er war schnell und gewitzt mit den Händen, aber er sollte keine Gelegenheit bekommen. Anfang August 1994 fand eines Nachmittags auf dem Malecon gegenüber dem Gebäude eine riesige Demonstration gegen die Regierung statt. Nach zwei Tagen Tumult bauten sich die Leute aus allem, was schwamm, ein Floß und hauten ab. Eines Morgens brach auch der Junge auf. Er war jetzt neunzehn.
»Mein Vater hat ein Riesengeschäft in den Staaten, Mann, das wird ein Leben!«, erzählte er seinen Freunden. Er verabschiedete sich nicht, tat alles heimlich, wie es seine Art war. Clotilde erfuhr davon erst, als ihr jemand erzählte, er habe gesehen, wie er auf seinem Floß aufs offene Meer hinausge-paddelt sei. Nie wieder hörte sie von ihm. Sie wusste nicht, ob er angekommen oder von den Haien gefressen worden war. Sie hatte die Hoffnung nie aufgegeben. Das war jetzt drei Jahre her. Im Juni würde der Junge zweiundzwanzig werden.
Manchmal möchte Clotilde sich umbringen. In Gedanken hat sie alles mögliche durchgespielt: Pillen schlucken, sich mit Alkohol übergießen und anstecken, sich aufhängen, aber sie traut sich nicht, hat Angst. Dabei weiß sie, dass es nur eine Frage der Zeit ist. Die Angst wird sich schon legen. Alles hatte sie versucht: Sie war in die Kirche gegangen und hatte gebetet. Sie hatte Arbeit gesucht, aber es gab keine, schon gar nicht für eine so abgemagerte Alte in schmutzigen Lumpen und mit nach faulender Leber stinkendem Atem wie sie.
Jeden Tag besäuft sie sich. Feste Nahrung interessiert sie nicht mehr, nur noch Alkohol. Es war jetzt dunkel, und sie hatte sich entschlossen. Sie räumte ihren Plunder zusammen und stieg die schmutzigen, nach Urin und angetrockneter Scheiße stinkenden Treppen zu ihrem Zimmer hinauf, holte eine Flasche Selbstgebrannten Rum hervor und nahm einen tiefen Schluck.
Es war dunkel und still. In einer Ecke stand dieser verdammte Koffer des Zauberers Cherry, und Clotilde begann zu weinen. Sie tat sich selbst leid, empfand Zorn und Hass und musste erneut weinen.
Das Gebäude stand am Malecón an der Ecke Campanario, war arg mitgenommen von Wind, salziger Luft, Zeit und Vernachlässigung. Große Löcher klafften in der Backstein-mauer, Dach und Wände waren voller Risse. Einige Tage Regen und Nordwind würden ausreichen, um es einstürzen zu lassen. Doch viele Menschen wohnten darin. Niemand konnte sagen, wie viele. Sie kamen und gingen. Ein paar Glühbirnen gaben ein trübes gelbliches Licht. Düstere Schatten und Stille. Alle wohnten hier illegal, huschten vorüber wie Kakerlaken und verschwanden in ihren Winkeln. Jederzeit konnte die Polizei kommen, sie aus ihren Löchern holen und zurück in die Provinz im Osten schicken, aus der sie gekommen waren, oder in eine der Notunterkünfte in den Vororten Havannas stecken, in denen es zwei Trakte mit Pritschen gab, einer für Männer, der andere für Frauen. Und was sollten sie auf dem Land anfangen? Was sollten sie verkaufen? Da war es hier schon besser, selbst bei dem Gedanken, dass dieses Gebäude eines Nachts über ihrem Kopf einstürzen und sie unter sich begraben könnte. Im Nachbarzimmer wohnte ein alter Mann, genauso einsam wie sie. Auch ihm schmeckte der Rum. Manchmal tranken sie zusammen. Er war ein schwarzer alter Mann, ungewaschen und unrasiert, der sich überhaupt nicht mehr daran erinnern konnte, wann er zuletzt gebadet hatte. Clotilde klopfte an seine Tür, und sie tranken zusammen. Sie redete ohne Unterlass und erzählte ihm immer wieder ihre Geschichte. Er sagte kein Wort. Nie hatte er ihr etwas erzählt. Aber er war einsam, hungrig, schmutzig. Er hörte ihr schweigend zu und trank. Clotilde wusste nicht einmal seinen Namen. In der Nacht gab der Alte
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