Peehs Liebe
fragte mich, wo das alles herkam, wie das zusammenhing, ob es sich vielleicht im Summen verborgen hatte. Im Winter hörte es auf zu summen, und Evros sagte am Telefon zu mir, Kathy sei immer noch nicht wieder aufgetaucht. In dieser Zeit wuchs ich plötzlich in Schüben und erreichte im Alter von dreiundzwanzig Jahren noch eine normale GröÃe. Ich musste alle zwei Wochen zur Kleiderkammer, weil mir die Hosen zu kurz geworden waren. Niemand konnte mein plötzliches Wachstum erklären, denn ich wuchs in einem Alter, in dem man gewöhnlich längst ausgewachsen ist. Aber vielleicht hing es damit zusammen, dass sich in meinem Kopf so vieles verändert hatte.
Im nächsten Sommer begann auch das irre Summen wieder. Als eine Biene in meine Zelle flog, drehte ich durch. Die Biene hockte mal auf der Lampe, dann an der Decke, krabbelte über die Wand und auf der Pritsche. Ich schlug nach ihr und zerlegte die ganze Zelle,bei dem Versuch, sie zu erwischen. Als ich sie hatte, krabbelte sie auf meiner Handfläche, putzte ihre Fühler, vollführte Schwänzeltänze, obwohl sie ganz allein mit mir war, weit und breit keine einzige Artgenossin. Es kam mir vor, als hätte ich einen Kompass auf meiner Handfläche.
Als die Wärter die verwüstete Zelle sahen, drohten sie, ich würde nie mehr aus der Haft entlassen, mein ganzes Leben nicht mehr, wenn so etwas nochmals passiere. Aber sie waren auch überrascht, dass ich nicht mehr nur vor mich hin summte, sondern langsam und stockend sprechen konnte.
Im November des darauffolgenden Jahres wurde ich entlassen. Da ich mich nun orientieren konnte, schaffte ich es allein bis nach Kall. In meinem Kopf herrschte nicht mehr so ein Durcheinander. Es summte nur noch leise, woran ich mich gewöhnt hatte. Ich stand hinten im letzten Waggon und sah nach drauÃen. Auf den Feldern lag der erste Schnee, durch den die Erde noch hindurchschimmerte. Der Zug ratterte durch Scheven und tauchte dann in den Tunnel ein. Ich fürchtete plötzlich, Kall würde es nicht mehr geben. Ich würde wie zuvor irgendwo landen, wo ich mich nicht auskannte. Dann aber erblickte ich die WeiÃdornhecken und das Industriegebiet. Oben vom Bahndamm aus schien es, als schwebte ich über Kall hinweg. Ich sah die Reinigung Moog, Delamots Friseurgeschäft, den Tabakladen, in dem Vincentini immer Zigarren gekauft hatte.
Evros stand hinter dem Tresen, als ich die Kneipe betrat. Zuerst erkannte er mich nicht, so sehr hatte ich mich verändert. Ich war groà geworden, ein richtiger Lulatsch. Ich hatte auch keine Glatze mehr, sondern fuchsrote Haare. Kathy war immer noch nicht zurück. Evros sagte, sie sei einige Zeit, bevor sie verschwand, sehr seltsam geworden. Sie sei planlos herumgelaufen, habe mit sich selbst und mit dem Archäologen geredet, zu dem sie reisen wollte.
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Annie las in einem der Bücher von Rosarius. Bellarmin hatte es in der Remise gefunden und für sie auf den Tisch gelegt. Im Buch fand sie einen zusammengefalteten, vergilbten Zeitungsartikel aus den Zwanzigerjahren, der von einem Geldraub berichtete. Diebe hatten einen Grubenzug überfallen und den Wochenlohn von fünfhundert Arbeitern geraubt, genau an dem Tag, als der Zug wegen Gleisarbeiten nicht bis zum Verwaltungsgebäude fahren konnte. Die Diebe mussten gute Kenntnisse der Umgebung gehabt und den Ãberfall genau geplant haben, denn als das Wachpersonal die Geldkisten über die Sand- und Geröllhalden zu den Verwaltungsgebäuden trug, lauerten sie dort. Zwei Gendarmen wurden erschossen, der dritte Mann des Begleitpersonals floh vor den Dieben und stürzte auf seiner Flucht einen vierzig Meter steilen Abhang hinab. Die Diebe wurden niemals gefasst, ihre Beute blieb spurlos verschwunden. Strohwang vermutete, dass sie irgendwo am Broog in einem Stollen versteckt worden war.
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I ch kam gut mit Evros zurecht. Ich glaube, ich war so etwas wie ein Sohn für ihn. Mein Gedächtnis war nicht mehr so gut wie früher. Vielleicht ist es besser, wenn man nicht alles im Kopf behält, irgendwann muss man ohnehin vergessen. Es ist merkwürdig, dass man sein ganzes Leben versucht, Dinge zu behalten und sich darauf auch noch etwas einbildet, wo man doch weiÃ, im Alter wird man alles vergessen. Ich konnte mittlerweile sprechen, wenn auch sehr langsam. Die meisten Leute warteten nicht, bis ich zu Ende gesprochen hatte. Ich wollte aber nicht, dass es wieder so wie
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