Peetz, Monika
wenn schon. Wichtiger ist,
was in dir passiert.«
Estelle
entledigte sich ihrer Schuhe. Blasen. Entsetzliche Blasen. Rohes Fleisch!
Judith
fuhr ungerührt fort: »Arne sagt, der Pilgerweg bringt Gefühle in einem hervor,
die man nicht von sich erwartet.«
»Mordgelüste«,
stellte Estelle fest.
»Du musst
bewusst gehen, Estelle«, klärte Judith sie milde auf. »Dann stellt der Körper
sich auf natürliche Weise auf das neue Lebenstempo ein. Nur dann entdeckst du
dich neu.«
Der
esoterische Singsang, diese verständnistrunkene, gehauchte Stimme gab Estelle
den Rest: »Wer sagt das? Arne, der Prophet? Lass sehen.«
Neugierig
griff Estelle nach dem Tagebuch, das im Gras lag. Noch bevor sie zugreifen
konnte, riss Judith die Notizen vehement an sich. Das Vermächtnis von Arne ging
niemanden etwas an.
»Ich
wollte nur wissen, welche spirituellen Herausforderungen mich erwarten«,
verteidigte sich Estelle.
Ohnmacht
und Ärger kochten in Judith hoch. Warum hatte sie die Freundinnen auf den
Jakobsweg mitgenommen? Sie hätte die Pilgerreise alleine antreten sollen. Auch
ohne die Einmischung der Dienstagsfrauen war es schwer genug, auf Arnes Spuren
unterwegs zu sein. Die ätzenden Kommentare der Freundinnen, ihre stumme Kritik
und das permanente Geplapper im Hintergrund vergifteten die Atmosphäre. Sie
entfernte sich ein Stück von der Gruppe und versuchte sich darauf zu konzentrieren,
warum sie nach Frankreich gekommen war. Sie wollte das Tagebuch von Arne mit
einem Schlusskapitel zu einem würdigen Ende bringen.
Vorsichtig
schlug sie das Buch auf und schraubte die Kappe von Arnes Füller ab. Seit
Judith mit ihrem Pelikano-Füller die Grundschulhefte zerkratzt hatte, hatte sie
keinen Füller mehr in der Hand gehabt. Arnes altmodisches Erbstück war ein
Auslaufmodell. Und das im wahrsten Sinne des Wortes. Statt wohlgesetzte und
weise Gedankensplitter zu Papier zu bringen, war das Erste, was Judith in Arnes
Tagebuch hinterließ, ein nasser Fleck in Kobaltblau. Judith fühlte die Tränen
aufsteigen. Es waren immer die kleinen Dinge, die sie aus dem Konzept brachten.
Ein Lied im Radio, das sie gemeinsam gehört hatten, ein Schreiben von Volvo,
das Arne zur Präsentation des neuen Modells einlud, das ausgetrocknete
Milchschälchen, das Arne immer gefüllt hatte, um die Nachbarkatze auf ihren
Balkon zu locken. Und jetzt dieser hässliche Fleck in seinem Tagebuch. Arne
hätte versucht, aus der Form des Kleckses etwas Positives herauszulesen. So wie
er ihr in ihrem ersten gemeinsamen Urlaub die Zukunft aus den Wolken über der
Ostsee vorausgesagt hatte.
»Ich bin
ein geübter Wolkenleser«, hatte er behauptet und ihr glaubhaft versichert, dass
die Wolken aussahen wie Schwarzwälder Kirschtorte. »Fette, süße Jahre kommen
auf uns zu«, hatte er ihr ins Ohr geflüstert. Und Judith hatte ihm geglaubt.
Bis alles anders kam.
Sie wollte
nicht weiter darüber nachdenken. Sie musste die Dinge, die geschehen waren,
loswerden. Sie wollte Arne nicht mehr vermissen. Manche Leute schrieben
Tagebuch, um sich zu erinnern. Judith wollte schreiben, um zu vergessen. Die
Wolken und alles, was danach kam. Es brauchte keine große Fantasie, zu
erkennen, was die Tintenlache bedeutete. Der Klecks sah aus wie eine
Unwetterwolke. Die Götter waren bereit, Blitze auf sie herabzuschleudern.
Hastig
blätterte Judith um und begann von vorne. Donnerstag, 17. Juni. Erneut stockte
sie. Was sollte sie über das erste Stück ihres Pilgerwegs schreiben? Sie hatte
sich penibel an Arnes Angaben im Tagebuch gehalten. Und war trotzdem in die
Irre gelaufen. Judith redete sich ein, dass es nur die Müdigkeit war, die sie
sprachlos machte.
16
»Ich weiß,
was wir brauchen«, rief Eva fröhlich. Als Letzte ächzte sie heran und erfasste
mit einem Blick, dass der Haussegen bei den Dienstagsfrauen schief hing. Judith
saß im Lotussitz ein Stück abseits, die Innenflächen der Hände zum Himmel
gewandt, die Augen geschlossen.
»Die macht
um ihren toten Arne mehr Theater als um den lebenden«, kommentierte Estelle das
merkwürdige Verhalten der Freundin.
»Sie hat
ihren Mann verloren, Estelle. Da darf man übertreiben«, nahm Eva Judith in
Schutz. Sie machte sich Sorgen um die Freundin. Judith war die Dramaqueen der
Dienstagsfrauen. Schon zu Kais Zeiten besprach sie Probleme lieber, als sie zu
lösen. Seit dem Tod von Arne war sie verstummt. Wenn Judith nicht mehr reden
wollte, war das ein Alarmzeichen.
Eva
entledigte sich ihres schweren
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