Peetz, Monika
ersten Mal
in Frankreich eine Busfahrkarte kaufen wollte.« Estelle legte eine ihrer
gekonnt platzierten Kunstpausen ein.
»Und?«,
fragte Kiki ungeduldig nach.
»Ich weiß
nicht, was ich gesagt habe, aber der Fahrer muss verstanden haben, >zieh die
Hose aus<.«
Sie
prusteten los. Nicht einmal der böse Seitenblick von Judith konnte ihrem
Heiterkeitsausbruch Einhalt gebieten.
»Und
deswegen lernst du jetzt Polnisch«, piesackte Kiki Estelle.
»Wie soll
ich mich sonst mit der Haushälterin verständigen? Die sagt immer denselben
Satz, und ich versteh nur Bahnhof.«
Caroline
mischte sich wieder in das Gespräch. »Hast du inzwischen rausgekriegt, was der
Satz bedeutet?«
Estelle
imitierte einen polnischen Akzent.
»Keine
Angst, mein Mann klebt das wieder zusammen.« Wieder prusteten sie los.
»Könnt ihr
einfach mal die Klappe halten?«, herrschte Judith die Freundinnen an.
Caroline
blieb das Lachen im Hals stecken. Estelle und Kiki gaben sich hemmungslos ihrer
albernen Laune hin.
»Vermutlich
eine allergische Reaktion auf die Landschaft«, meinte Estelle. »All die Pollen,
die frische Luft, das kann nicht gut sein.«
Um Judiths
Fassung war es geschehen: »Für euch ist das alles ein großer Spaß«, klagte sie.
»Aber nicht für mich. Ich will das hier so aufnehmen, wie Arne es erlebt hat.
Ich habe es mir so schön vorgestellt, und, und, und jetzt habe ich nicht einmal
eine Ahnung, wo wir sind.«
Tränen
quollen hervor. Die Erschöpfung und Verzweiflung, die sich in den letzten
Stunden aufgebaut hatten, schlugen endgültig zu. »Ich hatte mir so vorgenommen,
stark zu sein«, presste sie heraus.
Das Lachen
wich betroffenen Mienen. Kiki biss unschlüssig auf ihrer Unterlippe herum. Sie
fühlte sich schuldig. Estelle weit weniger. Wie oft hatte sie sich darüber
aufgeregt, dass Judith ihrem verstorbenen Mann einen Heiligenschein aufsetzte.
Früher hatten sie sich oft anhören müssen, dass Arne sie mit seiner Liebe
erdrückte. Aber das hatte Judith längst vergessen. Zu Carolines Erleichterung
ersparte Estelle sich weitere Kommentare. Selbst Estelle wusste, wann es genug
war.
Caroline
nahm Judith einfach in den Arm. Sie hatte nicht das geringste Interesse,
irgendetwas besser zu wissen. Sicher nicht, wenn man fünfzehn gemeinsame Jahre
hinter und vierhundertdreißig Kilometer Wegstrecke bis Lourdes vor sich hatte.
Vierhundertsiebenundzwanzig, um genau zu sein. Denn Caroline wusste exakt, wo
sie waren.
»Wir
wissen vielleicht nicht, auf welchem Weg Arne gewandert ist, aber wir wissen,
wo er hinwollte.«
Judith
reagierte kaum. Sie war am Ende ihrer Kräfte.
»Es ist
sinnlos. Das Pilgern macht alles nur noch schlimmer«, schluchzte sie. »Am
liebsten würde ich umdrehen.«
Caroline
holte ihren Wanderführer hervor. »Genau das müssen wir auch. Ein paar Hundert
Meter von hier ist die Landstraße. Das ist der kürzeste Weg, wieder auf die
Route zu kommen. Ein paar Kilometer nur.«
Estelle
ließ sich theatralisch fallen: »Wo bleibt eigentlich der Notarzt, den ich
bestellt habe?«
18
Man sagt,
mit den Jahren ähneln Hunde ihren Besitzern. Für Bauern und ihre Tiere schien
Gleiches zu gelten. Es war ungeklärt, wer verwunderter war, auf der verlassenen
Schotterstraße fünf einsame, großstädtisch wirkende, durchgeschwitzte Damen
anzutreffen: der wortkarge Bauer oder die Schafe, die von der Ladefläche des
Anhängers hochnäsig auf die merkwürdige Pilgergruppe herabstarrten. Worte
mussten nicht gewechselt werden. Der Bauer verstand auch ohne Erklärung, dass
hier ein Akt christlicher Nächstenliebe gefragt war. Wortlos klappte er den
Zugang zur Ladefläche herunter und drängte die Schafe zur Seite. Mit einer
simplen Geste lud er die fünf erschöpften Pilgerinnen ein, auf seinem Anhänger
Platz zu nehmen.
Judith
stieg auf und gab damit das Signal, dass sie für heute bereit war, das Tagebuch
und seine Anweisungen zu vergessen. Caroline und Eva folgten. Selbst Kiki
verzichtete auf ein weiteres Ringen um Sündenerlass. Sie waren alle vier der
übereinstimmenden Meinung, dass sie für einen ersten Pilgertag genug geleistet
hatten. Großes geradezu! Auf jeden Fall genug, um aufzugeben.
Nur
Estelle hatte Zweifel. Man konnte nie wissen, inwiefern Blutrache unter
französischen Schafen verbreitet war. Möglicherweise waren diese Schafe mit dem
Paulliac-Lamm verwandt, das sie am Vorabend in Montpellier genossen hatte.
Milchlamm mit Zwiebelmarmelade. Eine Ewigkeit schien das her. Wie
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