Peetz, Monika
eine
Erinnerung aus einem früheren Leben. Aus einem schönen Leben. Die verdreckte
Ladefläche wirkte wenig einladend. Aber hatte sie eine Wahl? Der entsetzliche
Gedanke, auch nur einen Meter weiterlaufen zu müssen, gab den Anstoß, Heldenmut
zu beweisen und ihrer ausgeprägten Bauernhofphobie den Kampf anzusagen. Während
Estelle probierte, möglichst weit entfernt von den Schafen einen sicheren Platz
zu finden, hatte Eva es sich im Schneidersitz auf der Ladefläche bequem
gemacht. Vergnügt widmete sie sich den Resten des Picknicks, das sie verpasst
hatte.
Das
wacklige Gefährt setzte sich in Bewegung. Der Wind blies Estelle den scharfen
Schafsgeruch ins Gesicht, der Motor knatterte. Aus dem Fahrerhäuschen des
Traktors erklang blechern Radiomusik. Wie eine Stimme, die aus der Vergangenheit
herüberwehte, sangen die Poppys davon, dass sich nichts verändert habe. »Non, non,
rien n'a change.« Und mit der simpel gestrickten, aber fröhlichen
Melodie kam Leben in die Frauen.
»Das Stück
haben wir im Französischkurs übersetzt«, rief Kiki. Estelle konnte sich vage
daran erinnern, den französischen Jungenchor im Fernsehen gesehen zu haben.
Vermutlich zu einer Zeit, als Rudi Carrell der unangefochtene Held des
Samstagabends war.
Kiki
fing an zu klatschen und zu singen. »Mais tout a continue,
mais tout a continue.« Alles ist so weitergegangen wie
zuvor, behauptete der Text. Nichts hat sich verändert. »Non, non,
rien n'a change.«
Selbst
Judith ließ sich von dem ausgelassenen Lied anstecken. Gemeinsam mit Eva und
Estelle übernahm sie den Refrain, Kiki war für die Solostimme und die Strophen
zuständig. Textsicher war sie nicht. Dafür schmetterte sie mit großer
dramatischer Geste. Nur Caroline wehrte lachend ab: »Ich kriege nie den
richtigen Ton raus.«
Es reichte
ihr, ihre Mädels anzusehen. Und während sie fröhlich sangen, pflügte sich der
Traktor samt Anhänger durch die sanfte Hügellandschaft, vorbei an ein paar versprengten
Wanderern, die zeigten, dass sie nicht die Einzigen waren, die sich diesen
abgelegenen Jakobsweg ausgesucht hatten.
Estelle
war glücklich: Vielleicht war dieser Traktoranhänger der beste Ort, um sich
von der Einzigartigkeit und der Schönheit der Landschaft zu überzeugen. Und der
beste Ort zu fühlen, dass sie zusammengehörten. Wenn sie die anderen vier
heute kennenlernen würde, hätte ihre Freundschaft keine Chance. Aber nach
fünfzehn Jahren konnten sie sich Wahrheiten sagen, die andernorts zu Mord und
Totschlag führen würden.
»Non,
non, rien n'a change.« Nichts hatte sich verändert. Es
würde immer so bleiben. Was immer auch geschah.
Estelle
ließ ihre malträtierten Füße über den Rand des Anhängers baumeln. Jemand
kraulte sie sanft im Nacken. Als sie den Kopf zur Seite wandte, blickte sie in
zwei feuchte Schafsaugen, die verliebt auf den Pelzbesatz an ihrer Jacke
glotzten. Wie hatte Judith gesagt: »Beim Pilgern entdeckt man neue Seiten an
sich.«
Estelle
fand gerade heraus, dass ihr Kleidergeschmack bei Schafen besonders gut ankam.
19
Ächzend
bremste der Traktor vor ihrer ersten Unterkunft, der Auberge Sainte Marie, der
Herberge der heiligen Maria. Sie hatten es geschafft. Die erste Etappe lag
hinter ihnen. Ebenso wortlos, wie er die Frauen aufgeladen hatte, ließ der
schweigsame Bauer die Ladeklappe und dann die Frauen herunter.
Fast schon
mittelalterlich mutete das Ambiente des Dorfes an. In den engen Gassen
schmiegten sich gedrungene zweistöckige Häuser aus groben Natursteinen in
Grau, Ocker und mattem Gelb aneinander. Die bröckelnden Fassaden erzählten vom
endlosen Kampf gegen den Verfall. Man schien immer nur die Stelle zu flicken
und zu putzen, die es gerade nötig hatte.
Caroline
war froh, angekommen zu sein. Bei der Fahrt durch das Dorf war der Anhänger den
Häusermauern gefährlich nahe gekommen, ohne dass der Bauer es für nötig
gehalten hatte, das Tempo zu drosseln. Spuren an den Häuserwänden zeugten
davon, dass es längst nicht jedem Autofahrer gelang, den rechten Abstand zu
den Mauern zu halten. Vielleicht gab es deswegen so wenige und so kleine
Fenster in den Fassaden. Deren Größe schien sich eher nach dem verfügbaren
Platz zu richten, denn den Gesetzen der Symmetrie zu folgen.
Abweisend
wirkten die Steinfassaden, denn die wenigen Fenster waren mit Fensterläden und
Jalousien verrammelt. Satellitenschüsseln auf den Schindeldächern zeugten
davon, dass hier nicht viel los war. Man holte sich die Welt per
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