Peetz, Monika
verwitterte
Herbergsmutter Ginette ihnen die quietschende Tür zu ihrem Zimmer öffnete.
Caroline brauchte die Herberge nicht weiter zu inspizieren. Ein Blick genügte,
um den letzten Zweifel auszuräumen: Etwas stimmte nicht mit Arnes Tagebuch. Und
dieses Etwas war mehr als nur ein kleiner Irrtum in der Richtungsangabe.
20
»Ich nehme
das obere Bett«, verkündete Kiki fröhlich. Schwungvoll wuchtete sie sich und
ihr Gepäck auf das Etagenbett, das dem blinden Fenster am nächsten war. Die
anderen waren noch nicht über ihren Schock hinweg. Von wegen Luxus. Der Raum
hatte die Ausstrahlung einer kargen Klosterzelle. Und das lag nicht nur an dem
überdimensionierten Kruzifix, das den Raum schmückte.
Schonungslos
beleuchtete eine Neonlampe die tristen Details der Einrichtung: drei
Etagenbetten, ein Stuhl, ein windschiefer Tisch, ein Kleiderschrank mit sechs
Bügeln und Türen, die nicht mehr schlossen. Alles aus allerfeinstem Resopal.
Auf den Betten lagen verfilzte Wolldecken, die möglicherweise als Sammlerstücke
aus der Vorkriegszeit durchgingen.
»Eine
Freundin macht aus so etwas Taschen. Die gehen weg wie warme Semmeln«,
begeisterte sich Kiki. Sie hatte weder Zeit noch Lust, sich über die
Einrichtung eines Hotelzimmers zu sorgen. Was Arne in seinem Tagebuch schrieb,
war ihr herzlich egal. Kiki brannte darauf, sich an ihren ersten Entwurf zu
setzen. Sie hatte so viele interessante Formen und Farben gesehen, den Klang
der Landschaft in sich aufgesogen. Geräusche und Musik waren wichtig für sie.
Im ersten Semester hatte sie sich an der Designakademie komplett lächerlich
gemacht, als sie bei ihrer ersten Produktpräsentation eine CD vorspielte, um zu
demonstrieren, welches Gefühl sie mit ihrem Sofaentwurf einfangen wollte.
Alle
anderen hatten in stundenlanger Kleinarbeit Möbel aus Polyurethan-Schaum
gefeilt und liebevoll angepinselt. Inzwischen gab es längst Geräte, die auf
Knopfdruck aus Computerentwürfen dreidimensionale Modelle erzeugten.
Kiki war
guten Mutes. Der Tag hatte ihr so viele besondere Eindrücke geschenkt. Jetzt
ging es darum, diese in einen Entwurf umzusetzen. Sie konnte hier viel besser
arbeiten als im Studio in Köln, wo sie immer von Kollegen umgeben war, die sie
von der Arbeit abhielten. Hier war es still. Zu still.
Judith,
die bei der Ankunft in der Auberge vor Enthusiasmus übersprudelte, hatte es
beim Anblick des Sechsbettzimmers die Sprache verschlagen.
Estelle
war in das Untergeschoss entschwunden, um einen guten Tropfen auszusuchen. Als
sie wieder auftauchte, schwenkte sie frohgemut ihr Fundstück: einen
Mehrliterkarton Wein.
»Das
Einzige, was ich in dem sogenannten Weinkeller auftreiben konnte«, berichtete
sie, während sie Gläser verteilte und füllte.
Caroline
hob ihr Glas: »Trinken wir uns die Bruchbude schön. Genau wie Arne«,
deklamierte sie feierlich.
Sie meinte
das überhaupt nicht böse, aber Judith fühlte sich sofort angegriffen.
Ihre Miene
versteinerte. Caroline schien es nicht zu merken. »Der Wein schmeckt gar nicht
mal schlecht«, lobte sie.
»Was soll
das, Caroline?«, fauchte Judith.
»Möglicherweise
hat Arne Dinge nicht mehr so wahrgenommen, wie sie wirklich waren?«, wiegelte
Caroline ab. Sie suchte keinen Streit. Doch Judith war auf Kollisionskurs
unterwegs: »Er hatte es am Magen, nicht am Kopf.«
Kiki
seufzte. Manchmal war es ein Elend mit Caroline und ihrer krankhaften
Wahrheitsliebe. Was machte es aus, ob Arne den Weg und die Unterkunft exakt
beschrieben hatte? Sie hatten ein Dach über dem Kopf, sie waren gesund, sie
hatten zehn freie Tage in Frankreich vor sich und der Wein schmeckte herrlich.
Was wollten sie mehr?
»Halt dich
raus. Lass Judith die Illusionen«, wollte Kiki der Freundin zurufen, da setzte
Caroline bereits nach: »Findest du es nicht merkwürdig, dass die Angaben im
Tagebuch so gar nicht stimmen?«, bohrte sie weiter.
Kiki war
nicht die Einzige, die spürte, dass das schiefgehen würde. Eva stellte sich
zwischen die Streithähne und goss Wein nach. Betont munter versuchte sie den
Streit zu schlichten, bevor er richtig ausbrach. »Es gibt so viele Jakobswege
und alle führen nach Santiago de Compostela.«
Judith
schob Eva beiseite.
»Wahrscheinlich
haben die Besitzer gewechselt«, widersprach Judith trotzig.
Estelle
inspizierte ihr Bett mit spitzen Fingern: »Hier hat man in den letzten sieben
Monaten nicht mal die Wolldecke gewechselt.« Estelle war auf alle
Eventualitäten vorbereitet. Aus dem Koffer
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