Peetz, Monika
den
Wahnsinn trieb. Es war der Koffer, der an jeder Unebenheit hängen blieb. Es
waren ihre Hände, die brannten. An der rechten Hand waren erste Ansätze zu
einer Blutblase erkennbar.
Blasen
waren unter dem wandernden Volk ein beliebtes Gesprächsthema. Einer der Lehrer
riet ihr, einen Faden mit einer Nadel durch die Blase zu ziehen und zu
verknoten.
Innerhalb
eines Tages sauge der Faden die Feuchtigkeit auf, wodurch die Haut trockne. Es
helfe gut und tue richtig weh. Seine Frau schwörte auf Eigenurin, Judith auf
mentale Tricks:
»Du musst
dich auf das körperliche Empfinden des Schmerzes konzentrieren und nicht auf
die damit verbundenen Gefühle«, hatte Judith Estelle am Morgen mitgegeben, als
sie unter ausführlichem Wehklagen den Griff des Koffers anfasste. Aber zu
solchen mentalen Kapriolen war Estelle nicht in der Lage. Sie brauchte es nicht
erst zu probieren. Stattdessen tobte seit drei Kilometern ein unerbittlicher
Kampf zwischen Leidensfähigkeit und Eitelkeit in ihrem Inneren. Katholizismus
war nichts für sie, stellte sie fest. Aber das wusste sie schon im Alter von
zwölf Jahren, als sie ein kurzes Gastspiel an einer katholischen Mädchenschule
gab.
»Die Liebe
von Jesus Christus zeigt sich in seiner außergewöhnlichen Opferbereitschaft«,
schärften die Nonnen ihrer neuen Schülerin ein. Die verlangte Opferbereitschaft
stand in vehementem Widerspruch zu Estelles ausgeprägtem Unrechtsbewusstsein.
Und es war Unrecht, wenn die Klassenlehrerin von ihr verlangte, ihre
Süßigkeiten mit der ganzen Klasse zu teilen. Selbst mit der dicken Bärbel
Witte. Im Gegensatz zu Estelle sang die dicke Bärbel jeden Sonntag in der Messe
und war mit ihrer gestochen scharfen Schrift und ihrer aufdringlichen
Wohlanständigkeit das Lieblingskind aller Lehrer. Estelle wollte nicht teilen.
Auf keinen Fall ihre ehrlich verdienten Süßigkeiten.
Etwas
anderes aber teilte sie gerne. Zu ihren Konditionen: Gegen einen kleinen Obolus
gestattete Estelle ihren Mitschülerinnen einen Blick in ganz besondere Bücher.
Estelle unterhielt einen lebhaften Verleih mit den schwül erotischen
Liebesromanen, die ihre Mutter heimlich las und im Bügelkorb versteckte. Von
der feuchten Wäsche waren die Bücher auf doppelte Dicke angewachsen. Ein
Glücksfall für Estelle, denn der Preis eines Werks richtete sich nach dem
Umfang. Leider hatte die dicke Bärbel Witte weniger Sinn für Sinnliches als
für Sünde und Sühne. Sie verpetzte sie. Ganze drei Monate hatte die
Klosterschule Estelle ausgehalten.
Estelle
hatte zwar den Ärger der Nonnen auf sich gezogen, dafür aber ein für alle Mal
die Anerkennung ihres Vaters errungen, der in ihr sein eigen
geschäftstüchtiges Fleisch und Blut erkannte. Willi machte aus Schrott Geld und
verlor es postwendend in todsicheren Geschäften. Er schaffte es zeit seines
Lebens nicht, in eine der wichtigen Positionen seiner Karnevalsvereinigung
gewählt zu werden. Die Pappnasen hatten den Schrotthändler mit dem robusten
Humor, den chronisch schwarzen Fingernägeln und dubiosen Kontakten nie
wirklich akzeptiert. Seiner Ehefrau ging es nicht anders. Die Tochter aus
höherem Hause hatte bei der Flucht aus Ostpreußen alles verloren. Nur nicht den
anerzogenen Standesdünkel. Das Gefühl der Dankbarkeit, dass Willi ihr das Leben
gerettet hatte, als er ihr ein Obdach und seine starke Schulter bot, hatte
sich in den ersten, kinderlosen Ehejahren aufgebraucht. Sie ging in die innere
Emigration und träumte sich in eine Welt romantischer Helden mit zarten
Pianistenhänden.
»Estelle
soll es besser haben«, befand ihr Vater. Mit der Wahl einer elitären Schule
glaubte er, Estelle den Zugang zu den besseren Kreisen zu ebnen. Und die waren
in Köln nun mal katholisch. Den Schulverweis nahm er persönlich. »Es sind die
Hände, Estelle«, sagte er immer und zeigte seine geschundenen, schwieligen
Handinnenflächen, die von dicker Hornhaut überzogen waren.
Noch ein
paar Pilgertage und ihre Hände würden genauso aussehen wie die eines
Schrotthändlers. Sollten zwanzig Jahre cremen, feilen und ölen umsonst gewesen
sein? All die glättenden Handpackungen für nichts? Das konnte sie ihrem
verstorbenen Vater nicht antun.
Estelle
hatte den kritischen Punkt erreicht: Nach hundertfünfzig Kilometern Quälerei
war sie restlos mürbe und zu jeder Konzession bereit, die sie von Yves'
unsäglicher Erfindung befreite. »Die richtige Ausrüstung ist alles«, hatte Caroline
im Vorfeld gepredigt. Estelle brauchte eine
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