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Peetz, Monika

Peetz, Monika

Titel: Peetz, Monika Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Dienstagsfrauen
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auferlegte? Selbstkasteiung? Oder einfach großes Theater? Wie
sollte sie jemals die Gelegenheit bekommen, einen Blick in das Buch zu werfen,
wenn Judith nicht mal durch Essen und Gesellschaft abzulenken war? Als sei es
verboten, irgendetwas zu genießen, was Arne nicht mehr erleben durfte.
    Nach zwei,
drei Höflichkeitsbissen Omelette stand Judith wortlos auf, packte Tagebuch und
Rucksack und verschwand.
    »So geht
das nicht weiter«, flüsterte Estelle Caroline zu. »Wir müssen was unternehmen.«
    Unklar
blieb, was sich Estelle darunter vorstellte.
     
    41
     
    Die
Wallfahrtskapelle, die abseits der Herberge mitten in die Weidelandschaft
eingebettet war, empfing Judith mit dem Geruch von Weihrauch und warmem
Kerzenwachs. Der monotone Singsang einer französischen Pilgergruppe, die sich
zur Abendandacht versammelt hatte, verzauberte die Kirche. Ohne jede Betonung
beteten die Pilger in einer Endlosschleife das »Gegrüßet seist du, Maria«
herunter.
     
    »Je vous salue, Marie pleine degráces;
    le Seigneur est avec vous.
    Vous etes benie entre toutes lesfemmes
    et Jesus, le fruit de vos entrailles, est beni.
    Sainte Marie, Mere de Dieu,
    priezpour nous pauvres pecheurs,
    maintenant et á l'heure de notre mort.«
     
    Die
unaufhörliche Litanei bildete einen eintönigen Klangteppich, der das
Kirchenschiff mit der Aura des Geheimnisvollen füllte. Judith hatte es sich in
den vergangenen Tagen zur Gewohnheit gemacht, am Abend gemeinsam mit Eva die
lokale Kirche aufzusuchen. Für sie gehörte das zu einem Pilgerweg dazu. Arne
hatte es so gehalten und Judith wollte es ihm gleichtun.
    »Unsere
katholischen Aktivisten«, spöttelte Estelle, wenn sie wieder einmal in einer
Kirche verschwanden. Dabei war Judith nicht katholisch. Nie gewesen. Sie
beneidete Eva um ihren fraglosen, selbstverständlichen Glauben, der sie trug.
Sie selbst fühlte sich eher spirituell als religiös. Spirituell und suchend.
    Judith
hoffte so sehr auf ein Zeichen. Bei jedem Schritt, den sie tat, ersehnte sie
den magischen Moment, in dem sich dieses besondere Gefühl einstellte, von dem
so viele Pilger schwärmten. Sie wartete sehnsüchtig auf eine Begegnung mit
einer Art höherer Macht, die ihr die Kraft gab, ihr Leben, das in tausend
Stücke zerfallen war, wieder zu einem Ganzen zu machen.
    Sie wagte
nicht, mit den Freundinnen spirituelle Themen anzuschneiden. Wie sollte sie mit
der nüchternen Caroline über so etwas sprechen? Für die Anwältin zählten nur beweisbare
Fakten. Die Einzige, die für religiöse Fragen zugänglich war, war Eva. Aber
wie fragte man so etwas?
    »Und? Wie
steht es? Schon ein Gotteserlebnis gehabt?«

Das klang
wie die ungebührliche Frage ihrer Großmutter, die sie als Teenager mit ihrem
ewigen »Na Judith, hast du schon einen festen Freund?« verfolgt hatte. Und das
nur, um sie beim ersten Ja an die Mutter zu verpetzen: »Das Kind ist viel zu
jung für einen festen Freund«, hatte sie sich empört.
     
    Womöglich
war die Frage nach Gott genauso privat wie die Frage, ob und mit wem man Sex
hatte. Judith zuckte innerlich zusammen. Wie konnte sie in der Kirche über Sex
nachdenken. Es lag an ihr, dass der magische Moment sich nicht einstellen
wollte. Sie war nicht offen genug. Immer wieder drängten ihre Gedanken in die
verkehrte Richtung.
    Vielleicht
lag es an dieser Wallfahrtskapelle, die das Gefühl von Heilung und Seelenfrieden
gar nicht erst aufkommen ließ. Ähnlich wie die Kathedrale von Mirepoix war auch
diese Kirche mit üppigen Darstellungen von Kreuzigung, Marter und Tod
ausgestattet. Schon als Kind hatte Judith das Morbide der katholischen Kirchen
gefürchtet. Als einzig konfessionsloses Kind ihrer Jahrgangsstufe parkte man
sie kurzerhand beim katholischen Religionsunterricht. Und dazu gehörten die
verhassten Kirchenbesuche.
    »Judith
ist ein ängstliches Kind«, stand in der Beurteilung der Schule. Tatsächlich
fürchtete sie sich vor allem und jedem. Vor dem Krabbelgetier, das ihr kleiner
Bruder ihr ins Bett legte, davor, den Text des Gedichts zu vergessen, wenn sie
vor der Klasse stand, vor den lauten Stimmen der Eltern, die permanent
stritten. Am schlimmsten aber waren die Schulbesuche in Kirchen. All die
Darstellungen von Leiden in Stein, Marmor und Wandfarbe, die gruseligen Relikte
vergangenen Lebens hinter Glas, die Gräber, Grüften und balsamierten
Leichname.
     
    Auch
Bernadette lag, durch ein Wunder unverwest, als wäre sie erst gestern
gestorben, in einem Schrein in Nevers. Gott sei Dank war

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