Peetz, Monika
Burgund weit weg,
sodass keine der Freundinnen auf die Idee kommen konnte, dem Leichnam einen Besuch
abzustatten. Judith reichte schon die Postkarte mit dem Bild der toten
Bernadette, die Arne in sein Tagebuch geklebt hatte. Bernadette lag ganz still
in ihrer Nonnentracht, die Hände zum Gebet gefaltet, in einem Schrein. Judith
graute vor dem Anblick. Die Adern des Unterarms schimmerten durch, die
Fingernägel waren fast rosig, das Gesicht leicht sonnengebräunt. Judith hatte
Mitleid mit dieser gepeinigten Frau. Von Misstrauen, Unverständnis und
Anfeindungen geschwächt, war Bernadette an Knochentuberkulose erkrankt und mit
nur fünfunddreißig Jahren gestorben. Was nutzte es ihr, dass sie 1934
heiliggesprochen wurde? Was nutzte es, dass siebenundsechzig der Tausenden
Heilungen, die an der Quelle vonstattengingen, offiziell als Wunder anerkannt
waren? Judith fand, dass der Preis, den Bernadette für ihre Begegnung mit
Maria bezahlte, zu hoch war. Die Erscheinungen waren ein Spektakel. Nachdem
der Fall bekannt wurde, hatten sich bis zu zehntausend Schaulustige an der
Grotte versammelt, um Bernadette zu beobachten. Nicht alle waren ihr
wohlgesinnt. Bernadette wurde als Lügnerin bezeichnet, sie wurde ausgelacht,
verschrien, als hysterisch verunglimpft. Später, als sie ins Kloster geflüchtet
war, durfte sie überhaupt nicht mehr über ihre Erlebnisse sprechen. »Die
Jungfrau Maria hat sich meiner bedient wie eines Besens«, soll sie nüchtern
konstatiert haben. Nach Gebrauch wurde der achtlos in eine Ecke gestellt.
»Je
vous salue, Mariepleine degráces;
le
Seigneur est avec vous.
Vous
etes benie entre toutes les femmes ...«
Der Sermon
im Hintergrund ging weiter und weiter und weiter. Vielleicht half Beten. Für
Arne war klar gewesen, dass Ursprung und Ziel des Lebens außerhalb seiner
selbst lagen. »Die Menschen sollten weniger fragen und mehr beten«, war sein
Credo.
Unsicher
faltete Judith die Hände zum Gebet. Man musste kein Katholik sein, um die Worte
des Rosenkranzes zu kennen. Sie erwarb eine Opferkerze und versuchte beim
Entzünden, das Gebet zu sprechen. Im Kopf hatte sie die Worte parat.
Gegrüßet
seist du, Maria,
voll der
Gnade, der Herr ist mit dir.
Du bist
gebenedeit unter den Frauen ...
Warum
wollten die Worte nicht aus ihrem Mund fließen? Bitte für uns Sünder.
Stattdessen kullerten Tränen über ihr Gesicht. Eine Hand legte sich kalt auf
ihre Schulter. Judith fuhr zusammen. Aus der französischen Gruppe hatte sich
ein Mann gelöst. Unbemerkt war er näher gekommen.
»Kann ich
etwas für dich tun, Schwester?«, sprach er sie an. Seine durchdringende Stimme
hallte merkwürdig an ihr Ohr.
Judith
schüttelte den Kopf. »Der einzige Mensch, der mir helfen könnte, ist tot.«
»Der
Pilgerweg ist wie Krieg mit sich selbst«, entgegnete der Mann. »Blut, Schweiß
und Tränen. Und nur du kannst den Kampf gewinnen.«
Judith war
sich nicht sicher, ob es für sie überhaupt etwas zu gewinnen gab.
»Mein Mann
ist tot. Ich habe schon verloren.«
Die
Antwort des Pilgers kam schnell und schneidend wie ein Peitschenhieb.
»Darum
geht es nicht. Es geht um dich und deine Verfehlungen.«
Judiths
Kopf fuhr zur Seite. Wer war dieser obskure Tröster? Durch den Schleier der
Tränen erkannte sie einen kleinen, gedrungenen Mann mit kurz geschorenen roten
Haaren. Er hatte tiefliegende, dunkle Augen, in der Pupille und Linse
zusammenschmolzen. Nicht nur die kalte Hand, die auf ihrer Schulter ruhte, ließ
sie frösteln. Es waren diese Augen, in denen man keinen Halt fand. Man ertrank
in ihnen.
Judith
trat instinktiv einen Schritt zurück, die Hand fiel von ihrer Schulter.
»Ich
trauere falsch. Ich pilgere falsch. Wieso maßt sich jeder an, über mein Leben
zu urteilen?«
Sie
blitzte den unheimlichen Mann mit der merkwürdig geschwollenen Sprache wütend
an. Der Pilger blieb unbeeindruckt von ihrem Ausbruch. Er war nicht aus der
Ruhe zu bringen. »Nicht der Weg ist das Schwierige. Das Schwierige ist, dass
man sich selbst begegnet.«
Mit jedem
Wort kam er näher. Die Schatten der Kerzen gaben seinem Ausdruck etwas
Dämonisches, das sie beängstigte.
»Und die
Wahrheit, die man in sich findet«, fuhr er mit verzerrtem Gesicht fort, »die
ist nicht immer angenehm. Ohne Beichte keine Erlösung.«
Judith
fühlte sich unwohl. Was sollten diese dunklen Ermahnungen? Sie wollte einfach
nur weg.
»Ich habe
keine Ahnung, wovon Sie reden«, beendete sie die Angst einflößende Unterredung.
Der
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