Peetz, Monika
Pilger wertete ihre abwehrende Haltung als Beweis, dass er richtiglag: »Du
weißt es, Schwester. Du willst es nur nicht zugeben.«
Das reichte.
Was bildete der Kerl sich ein? Was wusste er von ihr? Sie musste sich so etwas
nicht anhören. Judith hastete überstürzt aus der Kirche.
»Du kannst
vor mir weglaufen«, tönte es kalt in ihrem Rücken. »Aber du kannst der
Wahrheit nicht entkommen. Weil sie in dir liegt.«
Weg. Nur
weg. Weg von dem diabolischen Mann mit seinen unheilschwangeren
Prophezeiungen.
Mit einem
Ruck riss Judith das schwere Kirchenportal auf. Ein kalter Windhauch ergriff
die Flammen der Kerzen und löschte sie mit einem Schlag aus. Der unheimliche
Pilger war wie vom Erdboden verschluckt. Nur der gespenstische Sermon war zu
hören.
»Je vous salue, Marie pleine degráces;
le Seigneur est avec vous.
Vous etes benie entre toutes les femmes ...«
Die
Franzosen beteten, als wäre nichts geschehen. Niemand hatte etwas
Ungewöhnliches wahrgenommen. Niemand außer Judith. Sie hoffte inständig, dass
dies nicht das Zeichen war, auf das sie gewartet hatte.
42
Der Kampf
ums beste Bett war eröffnet. Im engen Gang der Auberge herrschte lebhafter
Andrang auf die Schlafstätten. Zusätzlich zu den Dienstagsfrauen hatte sich die
französische Pilgergruppe aus der Kapelle eingefunden und dem gemütlichen
Abend in der Küche ein jähes Ende bereitet. Im Gang standen zwei Dutzend
Pilger, die versorgt und untergebracht werden wollten. Jacques bemühte sich
redlich, Ordnung ins Chaos zu bekommen. Er stockte, als er entdeckte, dass sich
nicht nur Max und die Dienstagsfrauen unter die Franzosen gemischt hatten,
sondern auch Eva.
»Ich bin
gleich zurück. Nicht weggehen«, hatte er ihr ins Ohr geflüstert, als die
französische Invasion begann und ihn zwang, die Küche zu verlassen. Als die
Freundinnen befanden, dass es auch für sie Zeit war, das müde Pilgerhaupt zu
betten, ging sie mit. In der Küche warten, dass Jacques zurückkam? Wohin
sollte das führen?
»Les
hommes á gauche, les femmes á droite. Männer links, Frauen rechts«,
übertönte Jacques das aufgeregte Sprachengewirr und seine Enttäuschung. Im
Gang wuselte es. Die Dienstagsfrauen hatten ausführlich Gelegenheit zu bedauern,
dass sie bei Wein und Cassoulet in der Küche hängen geblieben waren und sich
nicht rechtzeitig darum gekümmert hatten, ein Bett zu reservieren. Jetzt blieb
ihnen nichts anderes übrig, als sich unter die französische Gruppe zu mengen.
Rucksäcke
verhakten sich, Ellenbogen wurden ausgefahren, Bäuche als Bollwerk eingesetzt,
Zehen eingeklemmt. Ausdünstungen von Schweiß, Knoblauch, Weihrauch und
reichlich genossenem Alkohol hingen schwer in der Luft. Oder war das die üppige
Bohnenmahlzeit, die erste Wirkung zeigte?
Jacques
ließ sich nicht beeindrucken. Mit Charme überzeugte er zwei betagte Damen, die
entweder dieselben Eltern oder denselben exzentrischen Friseur hatten, dass
Einzelzimmer nur was für scheintote Senioren waren. Als das Zwillingspaar, das
sich eben noch über den mangelnden Komfort aufgeregt hatte, im Schlafsaal
verschwand, fühlten die beiden Damen sich so jung und attraktiv wie seit Jahren
nicht mehr.
»Wir
müssen heute Nacht alle zusammenrücken«, verkündete Jacques über die Köpfe der
Wartenden und sah dabei Eva in die Augen. Eindeutig zweideutig war sein Blick.
»Wage
nicht, die Situation auszunutzen«, hörte Eva eine Stimme. Doch die kam nicht
aus ihrem Innern, sondern von Kiki, die das Gedränge unerwartet in die Nähe von
Max geschoben hatte. Der hielt sich theatralisch die Nase zu:
»Ich liebe
dich, Kiki. Aber so sehr auch wieder nicht.«
»Ich
verstehe jetzt, warum Pilgern gegen fleischliche Gelüste hilft«, bestätigte
Estelle. »Bei dem Geruch von Pilgerschweiß wird man von selber keusch.«
Sie
bemühte sich, mit konsequenter Mundatmung dem Geruchsinferno zu entgehen und
sich mit einem gut platzierten Rempler ein gutes Stück nach vorne zu drängen.
Nur Judith schien die penetranten Gerüche nicht wahrzunehmen. Ihr Blick
schweifte unruhig über die Gruppe.
»Der Typ
war bei den Franzosen dabei. Ganz sicher«, lamentierte sie.
»Warum
lässt du dich von ihm so beeindrucken«, fragte Caroline Judith. Sie verstand
nicht, warum Judith so verstört war.
»Ihr
hättet ihn sehen müssen. Seine Augen funkelten. Als ob er mir was antun
wollte.«
»Eine Art
katholischer Taliban?«, erkundigte sich Estelle.
Der
Schreck war Judith in die Glieder
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