Peetz, Monika
Buchstaben: S.A.M.U.
Caroline
fiel es wie Schuppen von den Augen. Warum war sie nicht sofort darauf gekommen:
Service d'Aide Medicale d'Urgence. Samu. Der medizinische Notdienst.
»Kein
Wunder, dass mir das so bekannt vorkam«, flüsterte sie Estelle zu.
Vermutlich
war ihr die Abkürzung in irgendeinem der Texte, die sie im Französischkurs
übersetzt hatte, begegnet. Estelle und Caroline verständigten sich mit einem
schnellen Blick. Sie wussten, was und wen sie zu suchen hatten.
Judith war
stehen geblieben. Wie alle anderen auch. Sie horchten in die Gassen des Dorfs
hinein. Der Wind wehte von ferne merkwürdige Klänge heran. Erst einzelne Töne,
dann eine verstörend schräge Melodie. Es war eine aufgepeitschte,
unheilschwangere Musik, die untermalt wurde durch stampfende Schritte. Es
mussten viele Menschen sein, die in unheimlich langsamem Gleichmarsch näher
kamen. Mit Unbehagen gingen die Dienstagsfrauen weiter. Immer näher auf die
Musik zu. Der Blick öffnete sich auf eine Menschenmasse. Das gesamte Dorf
hatte sich zur Prozession versammelt. Eigentümlich die Musik, archaisch das
Ritual. Begleitet von schräger Blasmusik trugen düster wirkende Männergestalten
in seltsam wiegendem Gleichmarsch eine hölzerne Maria durch das Dorf.
Carolines
Blick glitt suchend über die Menge. Tatsächlich: Zwischen sonnenverbrannten
Touristen in ihrer bunten Freizeitkleidung, Pilgern und Dorfbewohnern stand ein
kräftiger, gedrungener Mann in einer weißen Sanitäteruniform. Das musste er
sein. Samu. Aus Angles.
»Du weißt,
was passiert, wenn ich ihn auf Französisch anspreche«, raunte Estelle Caroline
zu.
Gab es ein
Zurück? Caroline zweifelte nur einen kleinen Augenblick. Vielleicht besaß
dieser Mann den Schlüssel zu Arnes Geheimnis. Vielleicht war das ihre einzige
Chance, Antworten zu bekommen.
»Schau mal
da«, rief Estelle, zupfte Judith aufgeregt am Ärmel und wies vage auf eine
Gruppe Schaulustiger. Judith verstand nur Bahnhof. Was sollte da so besonders
sein?
»Der Mann
hat ein Tommy-Hilfiger-Shirt an«, rettete sich Estelle. Das war zwar gelogen,
aber etwas Besseres fiel ihr auf die Schnelle nicht ein. Judith war so
beschäftigt, sich über Estelles Oberflächlichkeit zu mokieren, dass sie nicht
bemerkte, dass der Platz an ihrer Seite leer war. Caroline hatte sich
davongemacht. Mit innerem Dank an Estelle.
»Excusez-moi,
Monsieur«, sprach Caroline den Sanitäter vorsichtig von der Seite an. Aus der
Nähe wirkte der Mann mit den wuscheligen braunen Haaren fast quadratisch. Er
war eineinhalb Köpfe kleiner als Caroline und atmete aus jeder Pore Kraft. Er
erinnerte Caroline an den Rausschmeißer eines dubiosen Etablissements in
Bahnhofsnähe, der auf Rapmusik und Handgreiflichkeiten stand und vor Gericht
ausführlich den Begriff »Respekt« strapazierte. Der Sanitäter schien sie nicht
bemerken zu wollen. Vorsichtig tippte sie ihm auf die Schulter. »Excusez-moi
...«
Weiter kam
sie nicht, denn in diesem Moment schwankte die Madonna an ihnen vorbei. Der
Sanitäter senkte demütig seinen Blick. Caroline tat es ihm gleich. Sie wollte
einen Mann, der so reizbar und cholerisch wirkte, nicht unnötig verärgern. Es
erwies sich als deutlicher Nachteil, nicht mit katholischen Ritualen vertraut
zu sein. Als sie wieder aufblickte, befand sie sich mutterseelenallein am
Straßenrand. Alle anderen hatten sich in den Zug eingereiht und folgten der
Madonna. Die Menge hatte den Sanitäter verschluckt.
51
»Da ist
Caroline«, stutzte Judith. Trotz Estelles unablässiger Bemühungen, sie
abzulenken, hatte sie Caroline in der Prozession entdeckt. Judiths Augen
verengten sich. Sie versuchte, sich einen Reim auf Carolines bizarres
Verhalten zu machen. Die Freundin drängte sich durch die Gläubigen nach vorne
an die Spitze des Zuges. Judith fand das mehr als merkwürdig:
»Wo will
sie hin? Was sucht sie da?«
»Vielleicht
ist sie spontan katholisch geworden?«, mutmaßte Kiki.
Nun
starrten sie alle auf Caroline, die sich zu einem Sanitäter herunterbeugte und
auf ihn einredete.
»Vielleicht
geht es Caroline nicht gut. Sie hatte so ein komisches Gefühl im Magen«,
wiegelte Eva ab.
Judith war
kein bisschen überzeugt. Estelle wurde nervös. Sie musste eine Erklärung
finden. Eine, die logisch klang. Harmlos. Wie zum Teufel konnte sie Judith
weglocken, bevor sie dahinterkam, was Caroline wirklich tat? Sie war so
schlecht in Lügen. Sie wollte fast schon aufgeben, als der Himmel Truppen zu
ihrer Rettung
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