Peetz, Monika
Mittlerweile lief sie, weil es ihr guttat.
Sie wagte nicht, dem angeschlagenen Frido davon zu erzählen. Von den Momenten,
in denen man gar nichts mehr dachte, sondern nur noch den wechselnden Boden
unter den Füßen spürte, den Geruch von Ginster und Wacholder einsog, die wechselnden
Schatten in sich aufnahm, das Spiel der Wolken und Farben beobachtete. Man
spürte das Auf und Ab des Weges, jeden minimalen Höhenunterschied.
»Gute
Nacht, Frido«, wünschte sie stattdessen. Sie traute sich nicht zuzugeben, wie
froh sie war, noch ein paar Pilgertage vor sich zu haben. Die Wahrheit war: Es
interessierte sie nicht, ob ihre Kölner Küche aufgeräumt war. Sie befand sich
an einem magischen Punkt ihrer Pilgerreise: Sie war von zu Hause weggegangen,
sie hatte ihren Alltag hinter sich gelassen, aber sie war noch nirgendwo
angekommen. Sie war einfach unterwegs. Bei Wind und Wetter.
54
Petrus
hatte sich gegen sie verschworen. Nachdem ihnen der Zufall ein paar freie
Plätze in einem Bus und eine Freifahrt zwischen Montcaup und St. Bertrand de
Comminges beschert hatte, waren sie in einen gemütlichen Trödelmodus verfallen.
»Sie haben
Unwetter angekündigt«, hatte der Busfahrer noch gewarnt.
Im
Hochgefühl, die zwei langen Etappen, die ihnen bevorstanden, gehörig abgekürzt
zu haben, hatten sich die Dienstagsfrauen viel zu lange in der weltberühmten
Kathedrale aufgehalten. Anstatt zügig die Etappe anzutreten, hatten sie die
prachtvollen Holzdekorationen und das imposante Chorgestühl bewundert.
Als sie
sich endlich auf den Weg machten, war es zu spät. Dunkle Wolken dräuten am
Himmel und boten ein großartiges Schauspiel. Im Hintergrund leuchteten die
Hügel der Pyrenäen, die jeden Tag ein Stück näher heranrückten. Sturm und Regen
kamen auf.
Judith und
Max gingen an der Spitze, dahinter die anderen.
»Und was
ist? Habt ihr etwas rausgefunden?«
Eva drängte
sich neugierig an Estelle und Caroline heran. Ebenso Kiki. Caroline drehte sich
entsetzt zu Estelle. Die machte eine entschuldigende Geste.
»Mein
Geist war willig, der Mund schwach.«
Es stellte
sich als Fehler heraus, dass die drei sich in der Nacht zuvor ein Zimmer
geteilt hatten.
»Jetzt sag
schon! Was ist mit dem Tagebuch? Was hat der Sanitäter erzählt?«, drängte
Estelle. Den ganzen Abend hatte sie versucht, an Caroline heranzukommen.
Judith,
misstrauisch geworden, war Caroline beim Abendessen nicht von der Seite
gewichen. Sie, die normalerweise als Erste im Bett verschwand, hatte selbst ein
Dessert bestellt. Später hatte sie darauf bestanden, mit Caroline aufs Doppelzimmer
zu gehen. Beim Anblick von Kerze, Foto und Glas Wein, die Judith wie jeden Abend
auf einem improvisierten Altar aufbaute, verflüchtigte sich Carolines Impuls,
Judith einzuweihen.
Früher
wäre Caroline drauflosgestürmt. Früher war zehn Tage her. In Köln aß man Fast
Food, ließ sich vom mobilen Internet und schnellen E-Mails terrorisieren und
legte höchstens mal einen Powernap ein, wenn das Pensum einen überforderte. Auf
dem Pilgerweg hatte Caroline Zeit zu reagieren. Nichts ging schnell, wenn man
zu Fuß unterwegs war. Dominique wohnte nicht weit von Angles. Zwischen der
Herberge und Dominique lagen zwei Aufstiege, die bewältigt sein wollten. An
einem Tag war das nicht zu schaffen. Caroline war dankbar für die Galgenfrist.
Sie hatte mit dem zu kämpfen, was sie gestern erfahren hatte.
»Es sieht
so aus, als hätte Arne regelmäßig seine Ferien in dieser Gegend verbracht. Bei
jemandem, der Dominique heißt«, erläuterte Caroline. Sie versuchte, möglichst
neutral zu klingen. Die Nachricht schlug dennoch ein wie eine Bombe. Estelle
erging sich sofort in Mutmaßungen: »Vielleicht hatte Arne eine zweite Familie,
Kinder, ein mysteriöses Doppelleben.«
»Dominique
kann genauso gut ein Männername sein«, warnte Caroline.
Eva nickte
aufgeregt. Sie wollte nicht daran glauben, dass Arne Judith hintergangen haben
sollte. »Es kann alles harmlos sein! Ein Missverständnis.«
Caroline
quälte sich mit Selbstvorwürfen: »Das Schlimmste ist, dass ich Judith
ermuntert habe, hierherzukommen.«
»Wer ahnt
denn so was. Arne hat Judith angebetet«, gab Eva zu bedenken.
»Und sie
trotzdem belogen«, konstatierte Estelle.
Doch erst
Kiki brachte auf den Punkt, worum es in Wirklichkeit ging:
»Und was
machen wir jetzt? Sagen wir es Judith?«
Als ob sie
ihren Namen gehört hätte, wandte sich Judith um. Auf eine merkwürdige Art
spürte sie, dass die
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