Peetz, Monika
aufmerksam. Vorsichtshalber schwieg Caroline.
Wenn sie jetzt etwas entgegnete, würden vermutlich die offenen Rechnungen aus
dem Zweiten Weltkrieg zur Sprache kommen. Doch der Sanitäter hatte sich bereits
festgeschimpft und bekam die Kurve ganz alleine. »Was bildet ihr Deutschen euch
ein? Dass das alles euch gehört? Dass ihr tun könnt, was ihr wollt?«
Umstehende
ermahnten ihn zur Ruhe. Gerangel entstand. Ein paar Dorfgenossen mischten sich
ein, redeten unter heftigem Gestikulieren auf ihn ein. Caroline bereitete sich
innerlich bereits auf den geordneten Rückzug vor, als der Sanitäter etwas
Unerwartetes tat.
»Fragen
Sie Dominique«, herrschte er sie an. Er kritzelte etwas auf ein Papier, drückte
es Caroline in die Hand und verschwand endgültig in der Prozession.
»Sainte Marie, priez pour nous,
Sainte Mere de Dieu,
priez pour nous Sainte Mere
toujours, priez pour nou ...«
Caroline
war wie vor den Kopf geschlagen. Sie hatte keine Antworten. Nur eine Adresse
von Dominique. Fragen sollte man nur stellen, wenn man die Antworten ertragen
konnte. Wie viel Wahrheit konnte Judith aushalten?
Energisch
zerknüllte Caroline den Zettel, pfefferte ihn in einen Papierkorb und lief
davon. Fünf Schritte später drehte sie um. Angewidert wühlte sie das
Papierknäuel aus dem Müll und strich es glatt. Ihre Hände zitterten. In diesem
Moment fühlte sie etwas Merkwürdiges. Eine plötzliche Wärme kroch ihr die
Wirbelsäule hoch und zwang sie förmlich, sich umzudrehen. Die Prozession hatte
einen Bogen um den Dorfplatz gedreht und kam frontal auf sie zu. Licht umstrahlte
die goldene Marienfigur, die hoch über den Köpfen der Gläubigen schwebte. Eine
geheimnisvolle Magie ging von der Madonna aus. Für einen winzigen Augenblick
waren sie miteinander verbunden. In diesem einen unerklärlichen Moment war es
keine Statue aus Holz mehr, die ihr gegenüberstand. Caroline hätte geschworen,
dass die Maria ihr direkt in die Augen sah.
Caroline
schloss entnervt die Augen. Sie schüttelte das eigenartige Gefühl von sich ab.
Schlafstörungen konnten zu Wahnvorstellungen führen. Ganz offensichtlich galt
das auch bei körperlicher und seelischer Überforderung.
Stunden
später lag Caroline in einem komfortablen Bett, das jeden einzelnen der fünf
Sterne verdiente, die das Hotel kategorisiertc. Sie hatten exzellent getafelt -
kein anderes Wort beschrieb das Sechs-Gänge-Menü treffender - und viel
getrunken. Schlafen konnte sie nicht. Sie lag im Bett am Fenster, starrte in
die dunkle, Sternenlose Nacht und hoffte auf ein Wunder. Das Wunder kam. Aber
es war ein blaues Wunder. Nicht nur für Judith. Vor allem für Caroline.
53
Caroline
war nicht die Einzige, die auf wundersame Rettung hoffte.
»Ich
träume davon, dass die Heinzelmännchen wieder nach Köln kommen«, gestand Frido,
als Eva ihren allabendlichen Anruf tätigte.
Eva
brauchte keine Details. Die Müdigkeit in seiner Stimme ließ sie ahnen, wie
ihre Küche aussah. Wie Küchen eben aussehen, wenn man keine Heinzelmännchen zur
Verfügung hatte: Der Müll quoll über, die Spülmaschine war voll, die
Spültablette eingelegt, der Einschaltknopf vergessen. Und wenn man großes Glück
hatte, fand man die Tennissocken im leeren Getränkekasten.
Frido war
ein nüchterner Mann. Er musste keine Erbsen ausstreuen, um zu wissen, wer ihm
bislang die Arbeit abgenommen hatte. Das Einzige, das ihn überraschte, war,
wie viel Arbeit es war.
»Wie
schaffst du das nur?«, fragte Frido matt.
»Gar
nicht«, gab Eva zu. »Ich tue nur so.«
»Und diese
ewigen Sitzungen«, klagte Frido. »Wenn man Zeitdruck hat, merkt man erst, wie
viele Sitzungsmonster an einen Vorstandstisch passen. Ich habe sie alle: die
Vielredner, Dauerfrager, Nichtssager und Selbstdarsteller. Und die, die für die
Entscheidungen zuständig sind, schweigen.«
»Mehr
Mütter einstellen«, schlug Eva vor. Wer Kinder zu Hause hatte, die auf ein
warmes Essen, einen Gutenachtkuss oder eine elterliche Schulter zum Anlehnen
warteten, hatte keine Zeit für endlose Wiederholungen, gespreizte Eitelkeiten
und aufgeschobene Entscheidungen. Aber das hatte sich wohl noch nicht bis in
die Vorstandsetagen rumgesprochen. Frido seufzte nur.
»Ich bin
froh, wenn du wieder zu Hause bist«, gestand er kleinlaut.
Eva
schwieg. Etwas hatte sich verändert. Sie hatte sich nur auf das Pilgerabenteuer
eingelassen, weil sie etwas für Judith tun wollte. Und weil die anderen
Dienstagsfrauen es befürworteten.
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