Pelagia und der rote Hahn
der Befehl ausgeführt werden.
Aber Immanuel wusste das anscheinend nicht, und deshalb beunruhigte er sich nicht im Geringsten. Und niemand von den anwesenden Juden warnte ihn.
Der Bulle fragte mit heiserer Stimme:
»Woher weißt du das von meinem Vater?«
Der Vagabund antwortete: »Das hab ich gelesen.«
»Wo denn gelesen? In der Zeitung? Das ist doch schon sieben Jahre her!«
»Nicht in der Zeitung«, sagte Immanuel, »sondern in einem Buch.«
»In was für einem Buch denn?«
»In dem da«, erklärte der Zerlumpte mit ernster Miene und zeigte auf Michls Stirn. »Ich kann in einem Gesicht lesen wie andere Menschen in einem Buch. Es ist sehr einfach, man muss nur die Buchstaben kennen. Das Gesicht hat nicht siebenunddreißig Buchstaben wie das russische Alphabet, auch nicht zweiundzwanzig wie das lateinische, sondern insgesamt sechzehn. In einem Gesicht zu lesen ist noch viel interessanter als in einem Buch – es erzählt dir viel mehr und betrügt dich niemals.«
Und da sagte der Bulle plötzlich das Gebet auf, das man sprechen muss, wenn man ein himmlisches Wunder erschaut oder wenn einem das Glück zuteil wird, einem bedeutenden Menschen zu begegnen: »Baruch ata Adonaj Elohejnu melech ha-olam, sche-kacha lo be-olamo« — »Gesegnet seiest du, Herr unser Gott, der Herrscher des Universums, in dessen Welt es dieses gibt.«
Dass der Michl ganz von selbst ein Gebet aufsagte, ohne dass ihn jemand dazu zwang! Unglaublich!
Als er mit seinem Gebet zu Ende war, sagte der Bulle:
»Sie müssen gehen, Rebbe. Gleich wird die Polizei kommen, dann wird man Sie verprügeln und ins Gefängnis werfen.«
Immanuel sah sich besorgt nach dem großen Haus um, in dem Raw Schefarewitsch verschwunden war. »Ach«, sagte er, »ach, ich gehe gleich. Gehe gleich ganz weg.« Und den um ihn Herumstehenden erklärte er vertraulich, dass er bisher in Jerusalem noch nichts zu tun habe. Die Pharisäer habe er sich schon angesehen, und jetzt wolle er sich die Sadduzäer ansehen. Man habe ihm nämlich erzählt, dass die Sadduzäer sich in der Jesreelebene angesiedelt hätten, dort, wo einmal die Stadt Megiddo war.
Dann schürzte er sein Gewand und eilte von dannen.
Michl lief ihm nach und fasste ihn an der Schulter.
»Rebbe, ich komme mit Ihnen! Der Weg nach Megiddo ist weit, und dort gibt es überall Räuber, allein sind Sie verloren! Ich bin stark, ich werde Sie beschützen. Und Sie bringen mir dafür die sechzehn Buchstaben bei!«
Dabei sah er Immanuel an, als hinge von der Antwort sein ganzes Leben ab.
Doch der schüttelte den Kopf.
»Aber warum nicht?«, rief der Bulle.
»Du wirst diese Buchstaben niemals lernen«, sagte der hokuspokusmach er. »Du brauchst es nicht. Und mit mir gehen brauchst du auch nicht. Es wird mir nichts geschehen, Gott wird mich vor allem Unheil schützen. Aber er schützt nur mich, nicht die, die bei mir sind. Deshalb muss ich alleine bleiben. Und du wirst auch ohne mich ein Jude, wenn du es nur willst.«
Und damit lief er in weiten, komischen Sprüngen in Richtung Dung-Tor davon.
Keine halbe Minute später, kaum war er um die Ecke verschwunden, erschien Raw Schefarewitsch mit zwei türkischen Gendarmen.
»Wo ist er, Juden?«, rief er schon von weitem.
»Dort, dort!«, zeigte man.
Genech übersetzte den Gendarmen ins Türkische: »Dort, dort«, und die Türken liefen, den Ruhestörer einzufangen.
Aber schon wenig später kamen sie stöhnend und hinkend wieder zurück. Der eine hielt sich den Kopf, der andere spuckte Blut und Zähne.
Die Juden trauten ihren Augen nicht: Hatte jener ausgemergelte Vagabund etwa diese beiden robusten Kerle so zugerichtet?
Die Polizisten redeten wirr durcheinander. Angeblich hatten sie den Landstreicher schon fast eingeholt, gerade war er vor ihrer Nase in eine dunkle Seitengasse geschlüpft, sie waren sofort hinterhergerannt, und da geschah plötzlich etwas ganz Furchtbares. Eine satanische Macht packte den einen von ihnen am Kragen und klatschte ihn mit Schwung gegen die Wand, sodass er bewusstlos zu Boden fiel. Der Zweite hatte nicht einmal Zeit, sich umzudrehen, da geschah ihm dasselbe. »Schajtan, Schajtan!«, riefen die erschrockenen Muschkoten. Raw Schefarewitsch zischte: »Ha-Satan!« und spuckte aus.
Dieser hokuspokusmach er war ein durchtriebener Bursche, das hätte man ihm dem Aussehen nach gar nicht zugetraut.
Am Abend desselben Tages ging Michl der Bulle fort. Wie hätte er auch bleiben können, nach dem, was an der Klagemauer geschehen war?
Zum
Weitere Kostenlose Bücher