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Pelagia und der rote Hahn

Pelagia und der rote Hahn

Titel: Pelagia und der rote Hahn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Akunin
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kein Jude, so spricht Jesus, der Gott der Christen«, bemerkte Raw Schefarewitsch zu seinen Schülern gewandt. »Nein, Immanuel, du bist kein Jude.«
    Der Vagabund hockte sich auf die Erde, legte den Stab quer über die Knie und schaute den Lehrer von unten nach oben ganz munter an. »Einen Gott Jesus«, antwortete er, »den kenne ich nicht, und ich bin Jude, das kannst du mir ruhig glauben. Aber du, grimmiger Mensch, du bist kein Jude. Denn ein Jude ist nicht der, der von einer jüdischen Frau geboren wurde, Schläfenlocken trägt und kein Schweinefleisch isst, sondern der, der seine Seele reinigen will. Jeder kann Jude werden, der den Bund mit Gott schließt, und dafür braucht man keine dummen Verbote, und man muss nicht den kleinen Jungen was abschneiden. Gott vertraut dem Menschen auch ohne das alles.« Hier fing Immanuel an zu lachen und beendete dann seine gotteslästerliche Rede in absolut empörender, ja geradezu flegelhafter Weise. »Sag doch selbst«, sprach er, »du Mitglied des Rates der Rabbiner, was sollte Gott, dem doch alle Schätze des Himmels und der Erde gehören, mit so einem Schätzchen wie einem Stück von deinem Pillermann?«
    Dieses ulkige Wort erklang so unerwartet, dass einer der Jeschiwa-Schüler anfing zu kichern und Schmulik fest die Augen zusammenkniff, um möglichst schnell das Bild aus seinem Sinn zu vertreiben, das seine lebhafte Fantasie ihm sogleich vor Augen gebracht hatte: Gott der Herr betrachtet das Geschenk des Raw Schefarewitsch und überlegt, was ER jetzt mit dieser Winzigkeit anfangen soll – soll Er es irgendwo verwahren oder einfach wegwerfen?
    Das Kichern verstummte. Eine Unheil verkündende Stille trat ein. Niemand hatte dem ehrwürdigen Raw je solch eine furchtbare Beleidigung zugefügt, und dazu noch in aller Öffentlichkeit, vor einem ganzen Haufen versammelter Juden, und nicht irgendwo, sondern an der Klagemauer!
    War es zu verwundern, dass der Lehrer außer sich geriet?
    »Juden!«, rief er und schüttelte die Fäuste. »Steinigt den Frevler!«
    Aber kaum einer der Anwesenden hob einen Stein auf, und wenn es einer tat, dann mehr zum Schein. War das etwa ernst gemeint – sie sollten einen Stein auf einen lebenden Menschen werfen?
    Nur Michl der Bulle warf, der unbegabteste aller Schüler, den der Rab nur deshalb in seiner Jeschiwa duldete, damit er allerlei schwere Arbeit für ihn verrichtete. Michl war doppelt so breit wie die anderen Jeschiwa-Schüler und viermal so stark. Alle fürchteten seinen Zorn und sein gewalttätiges Wesen. Schmulik hatte einmal gesehen, wie der Bulle einen Straßenköter am Schwanz gepackt und seinen Kopf an einer Wand zerschmettert hatte. Dabei hatte ihn der Hund gar nicht gebissen, nicht einmal angebellt – er hatte einfach mitten auf dem Weg gelegen, wie es die Hunde gern tun.
    Der Stein traf den Sitzenden an der Brust. Der wankte kurz, hielt sich die verletzte Stelle mit der Hand und erhob sich rasch.
    Michl hob den nächsten Stein auf, aber da schaute Immanuel seinem Widersacher fest in die Augen und sagte ganz schnell einige sehr seltsame Worte. »Junge«, rief er klagend, »du tust mir weh. So, wie man deinem Vater wehgetan hat, als man ihn umbrachte.«
    Der Bulle ließ den Stein fallen und wurde weiß wie eine Wand. Nie im Leben hätte Schmulik geglaubt, dass das flache, kupferfarbene Gesicht Michls so weiß werden könnte.
    Aber das war ja auch ein Ding! Woher wusste der fremde Mann, dass Michls Vater bei einem Pogrom in Poltawa von der »Leibgarde Christi« erschlagen worden war?
    Da besann sich auch Raw Schefarewitsch. Er gab den anderen ein Zeichen, dass auch sie ihre Steine fallen ließen.
    »Du behauptest also, du seiest ein Jude?«, fragte er.
    »Natürlich«, brummte der wundersame Vagabund und zog den Kragen seines Kittels nach unten. Auf der knochigen Brust sah man eine hässliche Beule, die sich schnell blau und weinrot zu färben begann.
    Da sagte der Lehrer unheilvoll:
    »Ausgezeichnet. Genech, gej-no mit mir!«
    Und schnellen Schrittes begab er sich zum Machkame-Palast, der sich in der Nähe der Klagemauer befand. Genech, ein ortsansässiger Schüler, der Arabisch und Türkisch konnte, stürzte hinter ihm her.
    Schmulik wusste sofort, wohin der Raw eilte und was er dort wollte. Im Machkame befanden sich das städtische Gericht und die Zabtiye, die türkische Polizei. Nach dem Gesetz unterstanden alle Juden dem Rat der Rabbiner, und wenn ein Mitglied des Rates befahl, einen Juden ins Gefängnis zu werfen, musste

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