Pelagia und der rote Hahn
gewesen, ganze zwei Wochen war es schon her, aber es schien ihm, als wäre es heute.
Rab Schefarewitsch hatte die Jeschiwa-Schüler zur Klagemauer gebracht.
Sie stellten sich in einer Reihe auf und begannen zu beten. Schmulik schloss die Augen, um sich den Tempel vorzustellen – in seiner unvergänglichen Pracht und Herrlichkeit –, so wie er früher war und wie er sein würde, wenn die Stunde gekommen ist.
Plötzlich stieß ihn sein Nachbar mit dem Ellenbogen in die Seite und zeigte nach rechts.
Dort stand ein Vagabund in einem schmutzigen, zerlumpten Kittel, mit einem blauen Lappen als Gürtel. In der Hand hielt er einen knorrigen Stock, und an den Füßen trug er Bauernbastschuhe, die mit trockenem Lehm verklebt waren. Sein zerzauster Kopf war unbedeckt, auf seinem Rücken hing ein Sack – im Lande Pojln hatten sie solche »Sidorim« genannt.
Der Zerlumpte betrachtete neugierig die sich in Trauer und Schmerz vor und zurück wiegenden Juden. Nachdenklich hob er den Saum seines Kittels und kratzte sich die sehnigen, behaarten Waden – von einer Hose war unter dem erbärmlichen Kleidungsstück nichts zu entdecken.
»Was habt ihr denn, ihr Leute, warum weint ihr?«, fragte er auf Hebräisch, aber mit einer wunderlichen Aussprache.
Es stellte sich heraus, dass er, trotz der Bastschuhe, ein Jude war, wenn auch ein ziemlich merkwürdiger. Aber was sollte das für ein Jude sein, der nicht wusste, worum man an der Klagemauer weinte? Wahrscheinlich ein Irrer.
Das Gesetz schreibt vor, dass man Mitleid mit den Verrückten haben soll, deshalb gab Schmulik dem Vagabunden höflich Antwort, aber natürlich nicht auf Hebräisch (denn die heilige Sprache ist nicht für müßiges Geplauder bestimmt), sondern auf Jiddisch:
»Wir beweinen die Zerstörung des Tempels.«
Raw Schefarewitsch warf zwar einen flüchtigen Blick auf den Unwissenden, sagte aber nichts, weil es ihm, einem gaon (und vielleicht sogar einem lamed-wownikl), nicht anstand, mit jedem Dahergelaufenen zu sprechen.
»Ich verstehe deine Sprache nicht so gut«, sagte der Nacktbeinige in seinem komischen Hebräisch, das wie Vogeltschilpen klang. »Du sagst, ihr weint um den Tempel? Den, der früher hier mal gestanden hat?« Und er deutete auf den Tempelberg.
Schmulik nickte, schon tat es ihm Leid, dass er sich in das Gespräch hatte hineinziehen lassen.
Der Vagabund wunderte sich. »Warum soll man darum weinen? Das sind doch nur Steine. Ihr solltet lieber weinen, damit der Maschicha bald kommt.«
Schmulik verstand erst nicht, wer denn dieser »Maschicha« sein sollte, aber als er dann darauf kam, dass er den »Maschiach« meinte, den Messias, und bloß das Wort verdreht hatte, erschrak er zu Tode. Umso mehr, als der Raw aufgehört hatte, sein Gebet zu flüstern, und sich umdrehte. Berl, der immer alles wusste, war zu ihm getippelt und flüsterte:
»Rebbe, das ist der russische Prophet Manuila, der besagte . . . Man hat ihn in der Stadt schon gesehen, ich habe Ihnen davon erzählt.«
Die Stirn des Lehrers legte sich in bedrohliche Falten, und er sagte laut auf Russisch:
»Ich bin Aron Schefarewitsch, Mitglied des Rates der Rabbiner der Stadt Jeruschalajim. Und wer bist du, dass du leere Reden in der Sprache des Gebetes führst, die du nicht beherrschst? Woher kommst du und wie heißt du?«
Der Vagabund sagte, er heiße Immanuel und komme vom Berge Har-Sejtim, wo er die Nacht in einer der dort gelegenen Höhlen verbracht habe. Auch auf Russisch konnte er sich mehr schlecht als recht verständigen – man sagt über solche Leute, sie haben »einen Kloß im Mund«. Und was sollten das für Höhlen auf dem Ölberg sein? Doch nicht etwa die Grabeshöhlen? Für diese Lästerung wird ihm der Raw gleich mal die Leviten lesen!
Aber der Lehrer ging nicht weiter auf die Höhle ein, sondern er fragte Stattdessen angewidert:
»Bist du deshalb am Schabbat so schmutzig?«
Nein, lachte Immanuel darauf unbekümmert, er habe in der Erde gegraben, deshalb sei er jetzt voll geschmiert wie ein Stück Borstenvieh. Komisches Wort, Borstenvieh, oder?
»In der Erde gegraben? Am Schabbat? Und du nennst dich Jude?«
Eine Menschenmenge hatte sich um die beiden versammelt. Alle wollten hören, wie der große Talmudist, der Meister des Wortgefechts, diesen Möchtegern-Propheten in seine Schranken wies.
Der Mann, der sich Immanuel nannte, winkte unbekümmert ab. Ach was, sagte er, der Mensch ist nicht für den Schabbat da, sondern der Schabbat für den Menschen.
»So spricht
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