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Pelagia und der rote Hahn

Pelagia und der rote Hahn

Titel: Pelagia und der rote Hahn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Akunin
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Zitate wird er anführen?
    Aber Schmulik bekam keine Zitate, sondern eins mit dem Zeigestock, und zwar nicht auf die Finger, sondern auf Hals und Hinterkopf.
    Dann flog er unter einer Flut von Gezeter und Schlägen hochkant aus dem Klassenzimmer.
    Mit Raw Schefarewitsch ließ sich eben schwer diskutieren.
    Jetzt hieß es warten, bis der Lehrer sich wieder abgekühlt hatte, dann konnte man hingehen und um Vergebung bitten – in ein, zwei Stunden, eher nicht.
    Schmulik schob die Hände in die Taschen und ging auf der Straße hin und her, passte aber dabei gut auf, dass er nicht zu nahe ans armenische Viertel herankam.
    In der Nähe des Dung-Tors rief ihn jemand auf Russisch an.
    »He, Junge! Junge!«
    Eine Schickse in einem dunklen Seidenkleid und mit roten Haaren unter einem durchsichtigen Tuch kam auf ihn zugelaufen. Sie hatte eine Reisetasche in der Hand. Das sommersprossige Gesicht der Frau kam Schmulik irgendwie bekannt vor.
    »Du heißt Schmulik, stimmt’s ?«, lächelte die Rothaarige freudig. »Wir haben uns doch auf dem Dampfer miteinander unterhalten, weißt du noch? Ich trug damals ein Nonnenhabit.«
    Genau, jetzt fiel‘s ihm wieder ein. Diese Schickse hatte er schon mal gesehen, als er mit den andern Schülern aus Raw Schefarewitschs Jeschiwa von Moskau aus mit dem Dampfer bis zum Meer gefahren war. Bloß in der Kutte war die Schickse nicht so schön gewesen. Mit den goldenen Tüpfelchen im Gesicht und den Haaren, die aussahen wie ein leuchtender Heiligenschein.
    »Guten Tag«, sagte Schmulik höflich. »Wie geht es Ihnen?«
    »Danke. Wie schön, dass ich dich treffe!« Die Rothaarige freute sich immer noch.
    Was sollte daran denn schön sein?
    Da steht ein Schüler des ehrbaren Raw Schefarewitsch mitten auf der Straße und plaudert mit einer Schickse. Gebe Gott, dass es niemand dem Lehrer petzt. Schmulik hatte auch ohne dies genug Malessen. Da war schon so ein Litwak mit schwarzem Hut und Kaftan stehen geblieben und schielte herüber. Der sollte mal besser an den weisen Spruch denken: »Besser mit einer Frau sprechen und an Gott denken als umgekehrt.«
    Aber wenn man ehrlich war, dachte Schmulik in diesem Moment gar nicht an Gott, sondern er dachte: Wenn Madame Perlowa genauso weiße Haut hätte, wäre es um einiges angenehmer, sie zu heiraten.
    »Ich muss unbedingt mit dir reden!«, sagte die Schickse.
    Der Litwak glotzte immer noch herüber. Das konnte nicht gut gehen, der würde es ganz bestimmt dem Rab melden.
    »Ich habe es sehr eilig«, brummte Schmulik. »Ich habe leider überhaupt keine Zeit.«
    Und damit wollte er weitergehen. Aber die schöne Schickse fing auf einmal an zu wanken und stützte sich mit einem Stöhnen auf Schmuliks Schulter.
    »Oj, mir ist so schwindlig . . . Junge, bring mich in den Schatten . . . gib mir einen Schluck Wasser . . .«
    Sie schloss die Augen und griff sich an die Stirn. Wahrscheinlich ein Sonnenstich, sie war bestimmt die Sonne nicht gewöhnt.
    Nun lautet eines der wichtigsten göttlichen Gebote, eines, das alle Verbote übersteigt: Sei barmherzig. Also bringe ich sie in den Schatten, gebe ihr etwas zu trinken und mache mich schleunigst aus dem Staub, dachte Schmulik.
    Er fasste die indisponierte Frau am Ellenbogen, wedelte mit der Hand vor ihrer Nase herum, wie mit einem Fächer – damit der Litwak sah: Hier findet nicht etwa ein Flirt statt, sondern da ist bloß jemandem von der Hitze schlecht geworden.
    In der Seitengasse war es kühl und schattig. Schmulik setzte die Russin auf eine Steinstufe, lief zum Brunnen und schöpfte Wasser mit seiner Jarmulke. Die Schickse nahm einen Schluck und kam rasch wieder zu sich. Sie sagte:
    »Junge, ich suche einen Mann.«
    Spätestens jetzt hätte Schmulik seiner Wege gehen sollen. Barmherzigkeit hatte er gezeigt, das sollte eigentlich reichen. Aber er war neugierig, wen sie wohl suchen mochte. Und außerdem würde ja kaum jemand extra in diese kleine Seitengasse hereinspaziert kommen, nur um nachzusehen, ob sich da nicht vielleicht ein Jeschiwa-Schüler mit einer Schickse unterhielt.
    »Was denn für einen Mann?«
    »Er heißt Manuila und ist der Prophet der ›Findelkinder‹-Sekte, kennst du ihn?«
    Schmulik erschrak. Wie seltsam! Jetzt fängt die auch noch von dem nacktbeinigen hokuspokusmach er an!
    Seine Augen mussten ihn wohl verraten haben, denn die Rothaarige fragte rasch:
    »Er war also hier. Und du hast ihn gesehen, stimmt’s?«
    Schmulik zögerte mit der Antwort.
    Es war am ersten Samstag nach dem Passahfest

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