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Pelagia und der rote Hahn

Pelagia und der rote Hahn

Titel: Pelagia und der rote Hahn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Akunin
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Abschied sagte er: »Ich gehe fort, ich ziehe in die Welt. Ich seh mir an, wie ’s in Afrika ist, und in Amerika.«
    Er nähte sich einen blauen Streifen an sein weißes Hemd und ging fort. Rottete sich aus der Mitte seines Volkes aus . . .
    Das geschah am ersten Schabbat nach dem jüdischen Passahfest. Aber der Schickse erzählte Schmulik weder von Michl dem Bullen noch von dem nacktbeinigen Zauberkünstler, der jüdische Seelen stahl, sondern er sagte nur:
    »Der Mann, nach dem Sie fragten, war hier und ist wieder fortgegangen.«
    »Wann?«, rief die Russin aufgeregt.
    »Vor zwei Wochen.«
    »Und weißt du nicht, wohin er gegangen ist?«
    Schmulik zögerte, sollte er es sagen oder nicht. Doch was war schon dabei? Warum sollte er es nicht sagen?
    »Er sprach von der Jesreelebene, von der alten Stadt Megiddo und irgendwelchen Sadduzäern.«
    »Megiddo?«, fragte die Schickse, und ihre Augen weiteten sich erschrocken. »O Gott! Wo ist das, wie kommt man dort hin?«
    Sie zog ein kleines Büchlein aus ihrer Reisetasche. Darin lag ein zusammengefaltetes Blatt mit einer Landkarte.
    Schmulik wollte der Schickse gerade erklären, dass der Weg in die Jesreelebene weit und beschwerlich sei, dass Immanuel sowieso nicht dort ankommen würde, weil man nicht allein dort hingehen könne, denn da sei alles voller Räuber, und eine europäische Frau dürfe sich in so einer wilden Gegend schon gar nicht blicken lassen.
    Das wollte er sagen, aber er kam nicht dazu, weil er sich auf einmal unwillkürlich umdrehte und zu Eis erstarrte. Der verdammte Litwak, der vorhin auf der Straße so geglotzt hatte, war ihm nachgeschlichen und lugte jetzt um die Ecke. Schrecklich, sich vorzustellen, was er Rab Schefarewitsch für Lügen erzählen würde. Ihm blieb nur die eine Hoffnung: dass er nicht wusste, zu welcher Jeschiwa dieser Schüler gehörte, der so gerne mit Schicksen plauderte.
    Und Schmulik sauste Hals über Kopf um die nächste Ecke davon, tauchte in einen tiefen Türeingang ab und stand mucksmäuschenstill.
    Absätze klackerten vorbei – das war die Schickse. Kurz danach folgten weiche, schleichende Schritte, die sich in dieselbe Richtung bewegten.
    Dank sei dem Allmächtigen. Die Gefahr ist vorüber.
    Das Leben in einem arabischen Harem, von innen betrachtet
    Megiddo? Sadduzäer?
    Polina Andrejewna lief eilig durch die enge Gasse. Das Echo ihrer Schritte hallte von den Wänden wider, die hier kaum einen Klafter weit auseinander standen.
    Der Junge hatte die Zionisten als Sadduzäer bezeichnet. Gewisse Gemeinsamkeiten gab es da tatsächlich. Diese wie jene propagierten die Freiheit des Willens und behaupteten, das Schicksal liege in des Menschen eigenen Händen. Auch das pummelige Mädchen auf der »Stör« hatte von der Jesreelebene und der Stadt des Glücks gesprochen, die man in der Nähe des antiken Megiddo errichten wolle.
    Oh, wie furchtbar! Oh, wie entsetzlich!
    Und es waren schon zwei Wochen verstrichen!
    Ihr Entschluss fiel augenblicklich, sie zögerte nicht eine Sekunde. Wie gut, dass sie die Idee gehabt hatte, eine Reisetasche mit dem Notwendigsten mitzunehmen, für alle Fälle: etwas Wäsche, einen zusammenklappbaren Sonnenschirm und diverse für eine Dame unverzichtbare Utensilien. Sie brauchte also nicht zurück ins Hotel.
    In dem Reisehandbuch für Pilger gab es außer einer Karte des Heiligen Landes auch einen Stadtplan von Jerusalem. Hier war das jüdische Viertel, im unteren Teil der Altstadt. Sie musste nur immer weiter geradeaus gehen – zuerst durch den christlichen Teil, dann durch den moslemischen – so kam sie zum Damaskus-Tor.
    Aber diese verflixte Gasse wollte partout nicht gerade bleiben! Mal krümmte sie sich zur einen, mal zur anderen Seite, sodass Frau Lissizyna sehr bald jede Vorstellung von Himmelsrichtung verloren hatte. Die Sonne konnte sie auch nicht sehen, denn die Obergeschosse der Häuser, die mit ihren engen Holzgittern aussahen wie Hühnerställe, neigten sich so dicht gegeneinander, dass sie beinahe zusammenstießen.
    Unentschlossen blieb die Nonne stehen. Nirgends war ein Mensch zu sehen, den sie nach dem Weg hätte fragen können. Vielleicht schaute ja jemand aus dem Fenster?
    Sie sah nach oben – und gerade noch rechtzeitig. Aus einem geöffneten Gitter kamen zwei Frauenhände zum Vorschein, die eine Schüssel hielten, und aus der Schüssel ergoss sich ein silberglänzender Strahl Seifenwasser auf Polina Andrejewna herab.
    Im letzten Moment rettete sie sich mit einem großen Satz in

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