Pelagia und der rote Hahn
sorgfältig zusammen und steckte es in seine Tasche.
XV
Vollmond
Im Garten und um den Garten herum
Vor dem Jaffa-Tor befahl Pelagia, nach rechts abzubiegen. Sie umfuhren die Altstadt im Süden durch die Senke des Kidrontals.
Rechts leuchteten weiß die Grabmale des jüdischen Friedhofs auf dem Ölberg. Von weitem sah er aus wie eine riesige steinerne Stadt. Aber Polina Andrejewna hatte kaum einen Blick für diese weltberühmte Nekropole, deren Bewohner am Tage des Jüngsten Gerichtes als Erste auferstehen würden. Der erschöpften Reisenden war jetzt nicht nach Heiligtümern und Sehenswürdigkeiten zumute. Der runde Mond stand schon ziemlich hoch, und die Nonne fürchtete, zu spät zu kommen.
»Wenn wir in fünf Minuten nicht dort sind, wird es nichts mit den zweihundert Franken«, rief sie ungeduldig und boxte den Kutscher in den Rücken.
»Und was ist mit Heiraten?« Salach drehte sich um.
»Wie oft soll ich’s dir noch sagen, ich habe schon einen Bräutigam, noch einen brauche ich nicht. Beeil dich, sonst bekommst du kein Geld.«
Der Palästinenser war gekränkt, nichtsdestotrotz trieb er die Pferde zur Eile an.
Der Hantur polterte über eine Brücke und bog nach rechts in eine steil ansteigende Gasse ein.
»Da ist er, dein Garten«, brummte Salach und zeigte auf einen Zaun mit einer kleinen Pforte darin. »Fünf Minuten noch nich um.«
Mit pochendem Herzen schaute Pelagia auf den Eingang zum heiligsten aller irdischen Gärten.
Auf den ersten Blick war nichts Besonderes an ihm zu erkennen: ein paar dunkle Baumkronen und dahinter die Kuppel einer Kirche.
War Immanuel schon dort oder noch nicht?
Vielleicht war ja auch alles ein Irrtum?
»Warte hier«, flüsterte Pelagia und trat durch die Pforte in den Garten.
Wie klein er doch war! Höchstens fünfzig Schritte vom einen Ende bis zum anderen. In der Mitte ein verwahrloster Brunnen, ein Dutzend knorrige, krumme Bäume. Die Olivenbäume sollen unsterblich sein, sagt man. Jedenfalls können sie mindestens zwei – oder dreitausend Jahre alt werden. Sollte also womöglich einer dieser Bäume den Verrat des Judas miterlebt haben? Bei diesem Gedanken krampfte sich ihr das Herz zusammen.
Aber noch beklommener wurde es ihr zumute, als sie sah, dass außer ihr kein Mensch in dem Garten war. Der Mond leuchtete so hell, dass man sich unmöglich verstecken konnte.
Ich darf nicht die Hoffnung verlieren, versuchte sie sich zuzureden. Vielleicht bin ich ja doch zu früh gekommen.
Sie trat wieder auf die Straße hinaus und sagte zu Salach:
»Lass uns dort hinunterfahren und warten.«
Salach lenkte die Pferde zurück zur Straße, bis zu einer Stelle, wo eine eingestürzte Mauer eine Art Höhlung bildete, die von tief herabhängenden Ästen verschattet wurde. Hier war der Hantur für jeden unsichtbar, der nicht wusste, dass er dort stand.
Flüsternd fragte Salach:
»Und auf wen warten wir, hm?«
Statt einer Antwort bedeutete sie ihm nur mit einer unwirschen Geste, er solle schweigen.
Seltsam, aber in diesem Augenblick hatte Pelagia keinen Zweifel mehr daran, dass Immanuel kommen würde. Doch ihre Aufregung wurde dadurch nicht geringer, sondern nahm im Gegenteil von Minute zu Minute zu.
Die Lippen der Nonne formten ein lautloses Gebet: »Wie lieblich sind deine Wohnungen, Herr der Heerscharen! Meine Seele lechzt, ja verzehrt sich nach den Vorhöfen des Herrn. Mein Herz, mein ganzer Leib jubelt dem lebendigen Gott entgegen . . .« Die Worte kamen ganz von selbst, ohne Beteiligung ihres Verstandes, und erst als sie flüsterte: »Wahrlich, lieber ein Tag in deinen Vorhöfen als tausend in meiner Freiheit. Lieber auf der Schwelle liegen am Hause meines Gottes als in den Zelten des Frevels wohnen!«, begriff sie, dass sie ein Gebet für den Übergang irdischen Lebens in die Ewigkeit sprach.
Ein Zittern überlief sie.
Warum gab ihr ihre Seele jetzt gerade diesen Psalm ein, der für einen Menschen bestimmt ist, der an der Schwelle des Todes steht?
Aber bevor Schwester Pelagia ein anderes, freundlicheres Gebet sprechen konnte, bog jemand von der Straße her in die bucklige Gasse ein – eine Gestalt in langem Gewand, mit einem Stab in der Hand.
Mehr konnte die Nonne nicht sehen, denn in diesem Augenblick verschwand der Mond hinter einer Wolke, und es wurde stockfinster.
Der Wanderer ging ganz nahe an ihr vorbei, keine fünf Schritte entfernt, aber die Nonne erkannte trotzdem nicht, ob es der war, auf den sie wartete.
Sie beobachtete, ob er in den Garten
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