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Pelagia und der rote Hahn

Pelagia und der rote Hahn

Titel: Pelagia und der rote Hahn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Akunin
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dich schon finden, 48-36, wenn es nötig ist.«
    Er klopfte dem strahlenden Burschen auf die Schulter und setzte seinen Weg zu Fuß fort.
    Seine Stimmung war ein wenig gedrückt, aber gleichzeitig verspürte er in sich einen tiefen Frieden. Gott weiß, woran der ehemalige Sawolshsker Staatsanwalt dachte, während er mit leichtem Spazierschritt die Blagoweschtschenskaja-Straße entlangschlenderte. Einmal, am Ufer des Admiralitäts-Kanals, sah er versonnen und wohlgefällig einer Bonne zu, die zwei kleine Mädchen spazieren führte, und murmelte: »Tja, was soll man machen, ginge es ihnen besser, wenn ihr Papa ein Schurke wäre?« Keine Ahnung, was er damit meinte.
    Und dann, er war inzwischen schon auf der Postamts-Straße, flüsterte er, als hätte er gerade eine Antwort auf irgendeinen Gedanken gefunden: »Ganz einfach, aber gleichzeitig höchst elegant. Eine Berditschewski-Etüde.« Und er brummte fröhlich.
    Als er die Stufen zum Postamt hinaufstieg, stimmte er sogar ein kleines Liedchen an, ohne Worte und bar jeder Musikalität – kein Mensch, wenn ihm denn jemand zugehört hätte, wäre imstande gewesen, zu sagen, was er da eigentlich sang.
    Am Schalter ließ er sich ein Telegrammformular geben und kritzelte rasch einige Worte darauf: »Dringend P. suchen. Lebensgefahr. Berditschewski.«
    Er schob das Formular durch das Fenster dem Telegrafisten hin und diktierte die Adresse.
    »Sawolshsk, bischöfliche Residenz, an Seine Eminenz Mitrofani, Blitztelegramm.«
    Die Depesche kostete ihn einen Rubel, elf Kopeken.
    Seine Exzellenz Matwej Benzionowitsch Berditschewski verließ das Postamt, blieb aber noch einen Moment auf der Treppe vor dem Eingang stehen.
    Leise sagte er:
    »Na gut, vorbei, das war’s, das Leben. Man hätte es würdiger haben können, aber man muss es halt nehmen, wie es kommt. . .«
    Anscheinend hatte Matwej Benzionowitsch das starke Bedürfnis, mit irgendjemandem zu reden, und mangels eines Gesprächspartners hielt er nun hilfsweise Zwiesprache mit sich selbst. Aber nicht alles, was er dachte, sagte er laut, vielmehr kamen immer nur einzelne Gedankenfetzen heraus, ohne sichtbaren logischen Zusammenhang.
    Zum Beispiel murmelte er:
    »Ein Rubel, elf Kopeken. Was für ein Preis.«
    Und lächelte still.
    Schaute nach links und nach rechts. Die Straße war voller Passanten.
    »Gleich hier, meinst du?«, fragte Berditschewski, obwohl doch gar niemand in der Nähe war.
    Ihn fröstelte. Aber sofort erschien ein verlegenes Lächeln auf seinem Gesicht. Dann wandte er sich nach rechts.
    Seine nächste Bemerkung war noch seltsamer:
    »Ich frage mich, ob ich wohl bis zum Platz komme.«
    Ohne Eile spazierte er in Richtung Isaaks-Kathedrale. Verschränkte die Arme über der Brust und genoss den Anblick der glänzenden Pflastersteine, der schillernden Kupferkuppel der Kirche, eines Taubenschwarmes, der über ihm am Himmel kreiste.
    Flüsterte:
    »Merci. Es war schön.«
    Matwej Benzionowitsch schien irgendetwas oder irgendjemanden zu erwarten. Für diese Vermutung sprach auch der folgende Satz, den er von sich gab:
    »Na, wie lange soll das noch dauern? Langsam finde ich es direkt unhöflich.«
    Was er allerdings als unhöflich empfand, und warum, bleibt ein Geheimnis, denn genau in diesem Augenblick stieß ein kräftig gebauter junger Mann, der mit unbekanntem Ziel das Trottoir entlangeilte, in vollem Lauf mit dem Wirklichen Staatsrat zusammen. Der robuste Bursche – er trug ein gestreiftes Jackett – entschuldigte sich im Übrigen höflich, ja er hielt Berditschewski (der einen kleinen, erschrockene Hickser getan hatte) sogar einen Moment besorgt an der Schulter, lüpfte dann seinen Strohhut und trabte weiter.
    Berditschewski stand noch einen Augenblick so da, ein Lächeln auf den Lippen, wankte einmal kurz und sackte plötzlich in sich zusammen. Das Lächeln wurde noch breiter, und so erstarrte es, während die braunen Augen ruhig in eine Pfütze schauten, die in allen Regenbogenfarben schillerte.
    Eine Menschenmenge sammelte sich um den am Boden Liegenden – man war bestürzt, man kümmerte sich, rieb seine Schläfen und so weiter, und inzwischen schritt der kräftige junge Mann hurtig die Straße entlang und betrat das Postamt durch den Diensteingang.
    Der Telegrafenbeamte erwartete ihn.
    »Wo?«, fragte der Gestreifte.
    Man übergab ihm das Telegrammformular mit der Sawolshsker Adresse.
    Der Gestreifte kannte offenbar bereits den Inhalt der Depesche, er nahm wortlos das Blatt entgegen, faltete es

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