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Pelagia und der rote Hahn

Pelagia und der rote Hahn

Titel: Pelagia und der rote Hahn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Akunin
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spricht nicht zu mir, begriff Matwej Benzionowitsch, sondern zu Gott. Also hofft er doch auf Vergebung.
    Konstantin Petrowitsch trocknete sich mit einem Taschentuch die Tränen. Dann sagte er, jetzt wieder an Berditschewski gewandt, in strengem, unbeugsamem Tonfall:
    »Wenn du bereit bist, diesen Weg mit mir zu gehen, dann stell deine Schulter unter das Kreuz – und wir gehen. Wenn nicht – dann geh fort, und sei uns nicht im Weg! Also? Bleibst du oder gehst du?«
    »Ich bleibe«, antwortete Berditschewski nach einer kaum spürbaren Pause – leise, aber mit fester Stimme.
    Seine Exzellenz geht spazieren
    Eine Stunde später verließ Matwej Benzionowitsch das Gebäude des Heiligen Synods – schon nicht mehr als Staatsrat, sondern als Angehöriger der vierten Klasse, der Generalsklasse. Die Beförderung war mit fantastischer Leichtigkeit und Schnelligkeit vonstatten gegangen. Konstantin Petrowitsch hatte mit dem Justizminister telefoniert – das dauerte höchstens drei Minuten – und dann eine Verbindung mit dem Schloss hergestellt. Allein beim Gedanken daran, mit wem er da sprach, waren Berditschewski die Handflächen feucht geworden. »Ein äußerst wertvoller Mann für unser Staatswesen, ich lege meine Hand für ihn ins Feuer.« Solche Worte fielen über ihn, einen kleinen, unbekannten Staatsanwalt aus Sawolshsk. Und zu wem wurde das gesagt!
    Andere Beamte brachten die volle Dienstzeit hinter sich und mussten trotzdem noch monatelang auf die Beförderung warten, und bei ihm war die Sache im Handumdrehen erledigt, sogar die Ernennungsurkunde sollte noch am heutigen Tage ausgefertigt werden.
    Matwej Benzionowitsch erhielt das Versprechen, in kürzest möglicher Frist auf einen verantwortungsvollen Posten gestellt zu werden. Bis dahin, bis der Oberprokuror ein angemessenes Tätigkeitsfeld für ihn ausgesucht haben würde (die eine oder andere Woche würde er sicher dafür benötigen), sollte sich Berditschewski in der Hauptstadt aufhalten. Konstantin Petrowitsch riet davon ab, noch einmal nach Sawolshsk zurückzukehren. »Das erspart Ihnen überflüssige Erklärungen gegenüber Ihrem geistlichen Vater«, sagte er und stellte damit ein weiteres Mal seine umfassende Informiertheit unter Beweis. »Der Gouverneur von Sawolshsk wird per Depesche in Kenntnis gesetzt, und wir leiten unverzüglich den Umzug Ihrer Familie in die Wege. In ein, zwei Tagen wird Ihnen das Ministerium eine angemessene Unterkunft zuteilen, vollständig möbliert, Sie brauchen sich um nichts zu kümmern.«
    Und Seine frisch gebackene Exzellenz kümmerte sich um nichts.
    Berditschewski trat aus dem Gebäude des Synods in die grelle Sonne hinaus, kniff die Augen zusammen und setzte seinen Hut auf.
    Am Zaun vor der Grünanlage wartete der Wagen. 48-36 schaute mit großen Augen zu dem Streiter wider die österreichisch-ungarische Spionage herüber und wartete auf sein Zeichen. Sinnend schlenderte Matwej Benzionowitsch zu ihm hin und sagte träge:
    »Fahr mich ein Stück, Brüderchen.«
    »Wohin befehlen Sie?«
    »Och, tja, ich weiß nicht, sagen wir, die Uferstraße entlang.«
    Es war wunderbar, einfach so an der Newa spazieren zu fahren. Zwar versteckte sich die Sonne hinter den Wolken, und ein feiner Regen sprühte vom Himmel, aber der Fahrgast stellte einfach das Lederverdeck auf und schirmte sich so vor der Außenwelt ab. Bald hellte es sich wieder auf, und das Verdeck wurde zurückgeklappt.
    So kutschierte er gemütlich dahin und lächelte abwechselnd mal dem Himmel, mal dem Fluss und dann wieder den Lichtreflexen zu, die über die Häuserwände huschten.
    »Fahr zur Moika«, befahl er. »Oder nein, warte. Ich gehe lieber zu Fuß. Wie heißt du eigentlich? Jetzt sind wir schon zwei Tage zusammen unterwegs, und ich habe dich noch nicht einmal nach deinem Namen gefragt.«
    »Matwej«, sagte der Kutscher.
    Berditschewski wunderte sich ein wenig, aber nicht sehr, denn im Verlaufe dieses Morgens hatte er das ihm zur Verfügung stehende Quantum an Wunderfähigkeit fast vollständig aufgebraucht.
    »Kannst du lesen und schreiben?«
    »Jawohl.«
    »Brav. Hier nimm, für deine Mühe.«
    Und er schob eine Hand voll Papierchen in die weiten Rocktaschen seines Kutschers.
    Der Fuhrmann vergaß vor lauter Betrübnis sogar, sich zu bedanken.
    »Und das war alles, Euer Wohlgeboren, jetzt brauchen Sie mich nicht mehr?«
    Fast versagte ihm die Stimme.
    »Nicht ›Wohlgeboren‹, sondern ›Exzellenz‹«, korrigierte Matwej Benzionowitsch mit Würde. »Ich werde

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