Pelagia und der rote Hahn
Jerusalemer russisch-orthodoxen Mission ein. Dort begab er sich unverzüglich in die Kanzlei, um in Erfahrung zu bringen, ob seine geistliche Tochter inzwischen zurückgekehrt sei.
Doch, natürlich, sagte man ihm. Sie sei hier gewesen. Einen Tag nach der Anfrage Seiner Eminenz. Man habe umgehend ein weiteres Telegramm nach Odessa geschickt, aber das habe Seine Eminenz wohl nicht mehr erreicht.
»Gott sei Dank! Wo ist Pelagia?«, rief Mitrofani. Vor Erleichterung wurden ihm die Knie weich. »Ist sie wohlauf?«
Das könne man ihm nicht sagen, lautete die Antwort. Persönlich habe man sie nicht gesehen. Am vergangenen Samstag jedoch sei ein Botenjunge aus dem Hotel Frau Lissizynas in die Mission gekommen und habe ein Paket für Seine Eminenz abgeliefert. Am Tage darauf habe der Vater Archimandrit der Dame mitteilen lassen wollen, dass Bischof Mitrofani sich um ihr Wohlbefinden sorge, aber Frau Lissizyna sei nicht auf ihrem Zimmer gewesen. Und auch an den darauf folgenden Tagen sei es nicht gelungen, sie anzutreffen, obwohl man es mehrmals versucht habe.
Der Bischof begriff, dass er nichts weiter tun konnte, und zog sich unter dem Vorwand, er sei von der langen Reise erschöpft, in die Gemächer zurück, die für besonders ehrwürdige Gäste vorgesehen waren. Ohne auch nur den Hut abzunehmen, setzte er sich an den Tisch und öffnete mit zitternden Händen das ihm ausgehändigte Kuvert.
Als er den dicken Stoß beschriebener Papierbogen sah und die Handschrift, die ihm so vertraut war, erkannte, ließ er vor Aufregung seinen Zwicker fallen. Das rechte Glas zersprang kreuzweise – und so las er dann, durch das Kruzifix der Sprünge.
»An Seine Eminenz Mitrofani – Gott gebe ihm Licht, Kraft und Freude.
Ich hoffe, Sie werden diesen Brief nicht lesen müssen. Oder hoffe ich, im Gegenteil, dass Sie ihn lesen? Ich weiß es nicht. Aber wenn Sie ihn lesen, dann bedeutet es, dass alles wahr ist, auch wenn es unmöglich wahr sein kann.
Nein, das ist ein schlechter Anfang. Ich verwirre Sie nur. Verzeihen Sie.
Und verzeihen Sie mir auch, dass ich Sie betrogen und Ihre Leichtgläubigkeit missbraucht habe. Sie haben mich auf diese weite Pilgerreise geschickt, um mich in Sicherheit zu bringen. Ich jedoch habe Ihnen verschwiegen, welches der eigentliche Grund war, warum ich ins Heilige Land wollte: nicht um Ruhe und Frieden zu finden, sondern um meine Aufgabe zu Ende zu führen. Sie hatten ganz Recht: Ich habe kein Talent zum Nonnendasein, ich bin außerstande, in Stille und Demut für die Menschen zu beten. Von allen Bräuten Christi bin ich die missratenste. Aber davon erst zum Schluss, an gegebener Stelle.
Wie Sie sich erinnern, wurde dreimal der Versuch unternommen, mich umzubringen, einmal in Stroganowka und zweimal in Sawolshsk. Je mehr ich darüber nachdachte, desto klarer wurde mir.; meine Person für sich genommen solch mächtigen Verbrechern nicht derartig verhasst sein kann. Es gibt nicht den geringsten Anlass dafür. Folglich konnte es nicht um mich gehen. Aber um wen – oder um was – ging es dann?
Angefangen hat alles mit dem Mord an einem gewissen Pseudo-Propheten, und auch die folgenden Ereignisse hatten immer in irgendeiner Weise mit jenem berüchtigten Manuila zu tun. Ich hatte natürlich keine Vorstellung davon, um was für einen Menschen es sich bei diesem Manuila überhaupt handelte, aber ich sah, dass die einen nach seinem Leben trachteten, während andere ihn beschützen wollten, und da Erstere offenbar die Stärkeren waren, konnte ich mir leicht ausrechnen, dass sie früher oder später ihr Ziel auch erreichen würden. Was nun meine Person betrifft, so spiele ich in dieser Geschichte eine ähnliche Rolle wie die unglückliche Dummka – ich habe ihren Weg gekreuzt und sie auf irgendeine Art gestört. Deshalb haben sie beschlossen, mich aus dem Weg zu räumen, so wie man einen Stein beiseite räumt, damit man nicht über ihn stolpert. Ein anderes Interesse konnten Manuilas Feinde an mir nicht haben.
Wie Sie wissen, habe ich schon mehrere Morde aufgeklärt. Aber ist es nicht hundertmal wichtiger, einen Mord zu verhindern? Und wenn man glaubt, dass man die Kraft dazu hat, wäre es dann nicht eine Todsünde, untätig zu bleiben? Wenn ich Sie auch durch mein Schweigen belogen habe, so tat ich dies nur, weil ich befürchtete, dass Sie mich niemals fortgelassen hätten, wenn Sie die Wahrheit gewusst hätten.
Aber es gab noch einen weiteren Grund für diese Reise, es ging mir nicht nur darum, Immanuel zu
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