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Pelagia und der rote Hahn

Pelagia und der rote Hahn

Titel: Pelagia und der rote Hahn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Akunin
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ist gleich vorbei.« Und tatsächlich, fünf Minuten später wachte der General erfrischt auf und machte weiter, als wäre nichts gewesen.
    Genau das Gleiche geschah jetzt mit Mitrofani. Die Zeilen verflochten sich zu einer langen Schnur, die den Bischof unaufhaltsam in die Dunkelheit hinabzog. Von einer Sekunde auf die andere sank ihm der Kopf vornüber auf den Tisch, seine rechte Wange bettete sich auf seinen Ellenbogen, und er fiel augenblicklich in tiefen Schlaf.
    Seine Eminenz hatte kurz hintereinander zwei Träume.
    Der Erste war süß und wonnevoll.
    Mitrofani sah den Herrgott in Gestalt einer schimmernden Wolke, und die Wolke sagte zu ihm mit hallender Stimme: »Was soll ich mit deinen mageren Gebeten, Bischof? Was soll ich mit Klöstern und Mönchen? Das ist nichts als dummes, nutzloses Zeug. Liebet einander, ihr Menschenkinder, der Mann die Frau, die Frau den Mann, das ist für mich das beste Gebet.«
    Gleich danach betrat Mitrofani ein Haus. Das Haus stand am Ufer eines Sees, in der Ferne sah man Berge, unten blau und oben weiß. Die Sonne schien, im Garten bogen sich die Äste unter der Last der Äpfel, und eine Frauenstimme sang leise ein Schlaflied. Mitrofani drehte sich um und erblickte ein Kinderbett. Neben dem Bett stand Pelagia, aber nicht im Habit, sondern in einem normalen Hauskleid, und das bronzene Haar fiel ihr locker auf die Schultern. Pelagia schaute Mitrofani an und lächelte zärtlich, und er dachte: »Wie viele Jahre habe ich nutzlos vertan! Hätte die WOLKE nur schon früher zu mir gesprochen, als ich noch ein junger Mann war! Aber egal, ich bin ja noch rüstig, wir können noch lange glücklich sein.«
    Dabei drehte er sich von der rechten Wange auf die linke und begann einen zweiten, ganz anderen Traum zu träumen.
    Er träumte, er sei erwacht und setze die Lektüre des Briefes seiner geistlichen Tochter fort (obwohl er in Wirklichkeit immer noch schlief). Zuerst las er, dann aber schien er zuzuhören, und er hatte nicht mehr das Papier vor sich, sondern Pelagia selbst.
    »Ich weile nicht mehr unter den Lebenden«, flüsterte ihre Stimme. »Du wirst mich auf Erden nicht wieder erblicken, denn ich bin in die Ewigkeit eingegangen. Ach, wie schön ist es hier! Wenn ihr Lebenden das wüsstet, ihr würdet euch kein bisschen mehr vor dem Sterben fürchten, sondern ihr würdet den Tod mit freudiger Ungeduld erwarten, so wie ein Kind sich auf Weihnachten oder seinen Namenstag freut. Der Herrgott ist ganz anders, als die Kirche uns lehrt, er ist gütig und versteht einfach alles. Ihr Dummerchen trauert und weint um uns, aber wir bedauern euch. Weil ihr euch so sehr quält und vor allem so viel Angst habt.«
    Jetzt hörte der Schlafende nicht mehr nur Pelagias Stimme, sondern er sah sie auch selbst. Sie war von einem hellen Schein umgeben, der zwar nicht so strahlend leuchtete wie die göttliche Wolke, aber dafür in allen Farben schimmerte. Es war eine wahre Augenfreude. »Was soll ich denn tun?«, rief Mitrofani aus. »Ich will zu dir! Wenn ich dafür sterben muss – bitte, gerne. Nur nimm mich zu dir!« Sie lachte leise, wie eine Mutter über das sinnlose Gelalle ihres Babys. »Du hast es zu eilig. So geht es nicht. Du musst leben, so lange dir gegeben ist, aber hab keine Angst: ich warte. Hier gibt es doch keine Zeit.«
    Diese Worte erfüllten Mitrofani mit tiefem Frieden, und er erwachte.
    Er rieb sich die Augen, griff den Kneifer, der ihm von der Nase gefallen war, und setzte ihn wieder auf.
    Er las weiter.
    Der rote Hahn
    ». . . Sie waren dort?«, fragte ich Immanuel und wollte noch sagen: »in dieser Höhle«, aber in diesem Augenblick hörte ich hinter mir ein Geräusch. Ich drehte mich um und erblickte einen Mann. Er trug arabische Kleidung, und im ersten Moment dachte ich, er sei jemand von den Ortsansässigen, der zufällig beobachtet hatte, wie wir in das unterirdische Gewölbe gestiegen waren. Aber das runde, dicklippige Gesicht des Unbekannten zerfloss in einem höhnischen Lächeln, und er sagte in reinstem Russisch: »Na, Hänsel und Gretel, was haben wir denn da Schönes ? Einen Schatz? Dann gebt mal her. Ihr braucht keinen Schatz mehr.«
    »Was für einen Schatz?«, stammelte ich und sah plötzlich, dass er etwas in der Hand hielt, etwas Schwarzes, matt Schimmerndes.
    Da begriff ich: Das ist es, was ich so sehr gefürchtet habe. Ich bin zu spät gekommen. Sie haben ihn gefunden, und jetzt werden sie ihn töten. Seltsam, aber in diesem Augenblick dachte ich überhaupt nicht

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