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Pelagia und der rote Hahn

Pelagia und der rote Hahn

Titel: Pelagia und der rote Hahn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Akunin
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dass die Knöchel weiß hervortraten, und der Ausdruck seines Gesichtes war so erschreckend, dass die Dienerschaft, die dann und wann vorsichtig durch den Türspalt hereinlinste, jedes Mal sofort den Rückzug antrat. So ging es die halbe Nacht. Als endlich der Morgen nahte, setzte er sich an den Tisch, ließ den Kopf auf seine gekreuzten Arme sinken – und endlich, endlich konnte er weinen. Es war eine gute Zeit dafür, düster und still, sodass niemand seine Schwäche sah.
    Am Morgen ging es Seiner Eminenz sehr schlecht. Er rang nach Luft und drückte die Hand auf die Brust. Alle fürchteten, sein Herz hielte der Last nicht stand, und er würde seinem geliebten Täufling nachfolgen. Der Sekretär Vater Usserdow eilte zum Vikar, um sich mit ihm zu beraten, ob man ihm nicht die Letzte Ölung geben sollte. Am Abend jedoch kam mit dem Schiff ein Brief an, nach dessen Lektüre Mitrofani aufhörte, nach Luft zu schnappen, sich aufsetzte und die Beine aus dem Bett streckte.
    So las er den Brief noch einmal; dann ein drittes Mal.
    Auf dem Umschlag stand ungelenk und voller Fehler hingekrakelt: »Statt Sawolshsk, Gouvernement Sawolshsk Bieschof Mitrofani eilig und soll ihn selbs lesen und niemannt sonst.« Nur deshalb hatte man den Brief überhaupt zu dem kranken Bischof gebracht, weil »eilig« und »niemannt sonst« darauf stand.
    In dem Umschlag befand sich ein zerknittertes Blatt Papier, auf dem in Berditschewskis Handschrift geschrieben stand: »48-36, schick diese Nachricht per Eilpost an folgende Adresse: Gouvernement Sawolshsk, Stadt Sawolshsk, Seiner Eminenz Bischof Mitrofani persönlich.« Was diese geheimnisvolle Anrede bedeuten sollte, warum sie in Druckbuchstaben geschrieben war und was der Sinn der ominösen Ziffern »48-36« sein mochte, war Mitrofani vollkommen schleierhaft, aber klar war jedenfalls, dass diese Nachricht von äußerster Wichtigkeit war und möglicherweise eine Erklärung für das Petersburger Unglück beinhalten konnte.
    Der Bischof sah sich die wenig inhaltsreiche Nachricht so aufmerksam an, dass er zuerst gar nicht auf die Idee kam, das Blatt umzudrehen.
    Auf der Rückseite nämlich befand sich die eigentliche Nachricht. Sie war nicht in Druckbuchstaben geschrieben, sondern hastig hingekritzelt, in fieberhafter, kaum zu entziffernder Schnellschrift:
    »Die Buchstaben springen, ich schreibe während der Fahrt. Es ist gut, dass es regnet, ich habe das Verdeck hochgestellt, so kann man nicht hereinsehen. Pelagia ist in Gefahr. Sie müssen sie retten. Ich kenne die Schuldigen, aber ich werde Ihnen die Namen nicht nennen. Es ist besser so. Versuchen Sie nicht, sie herauszufinden. Fahren Sie zu Pelagia, und bringen Sie sie irgendwohin weit weg, so weit es nur geht, am besten ans Ende der Welt. Ich selber kann nichts mehr tun. Man beschattet mich. Aber egal, sollen sie ruhig, ich habe mir eine hervorragende Kombination ausgedacht. Die »Berditschewski-Etüde« – man opfert eine Figur, um eine hoffnungslose Partie vielleicht doch noch zu retten. Für meine Familie bitte ich Sie nicht – ich weiß, Sie werden sie nicht im Stich lassen. Leben Sie wohl. Ihr Sohn Matwej«
    Diesmal brauchte der Bischof nur einmal zu lesen, der Brief war nur allzu verständlich, und er verstand ihn ohne Umschweife als Aufforderung zum Handeln. In ihm erwachte der ehemalige Kavallerieoffizier: Wenn das Horn zur Attacke bläst und die Säbel aufeinander klirren, dann denkt man nicht nach – da zählen nur noch der Instinkt und der rasende Strom des eigenen Blutes.
    Der Schwächeanfall war vergessen. Der Bischof sprang aus dem Bett und rief laut nach den Zellendienern und dem Sekretär.
    Eine Minute später hatte sich die bischöfliche Residenz in einen ausbrechenden Vulkan verwandelt. Ein Zellendiener war unterwegs zur Anlegestelle, um ein Boot nach Nischni Nowgorod zu ordern. Ein anderer rannte Hals über Kopf zum Telegrafenamt, um ein Eisenbahnticket von Nischni Nowgorod nach Odessa sowie eine Kabine auf einem Schnelldampfer zu reservieren. Der dritte wurde mit einer eilig hingekritzelten Nachricht zum Gouverneur geschickt, worin Mitrofani ihm mitteilte, er müsse dringend verreisen und der Vikar werde das Totenamt für Berditschewski lesen. Gott weiß, was der Gouverneur und die gesamte Sawolshsker Gesellschaft davon halten mochten, aber das kümmerte den Bischof in diesem Moment nicht im Geringsten.
    Nachdem diese Anordnungen erteilt waren, machte sich der Bischof daran, sich eilends anzukleiden und die nötigsten

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