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Pelagia und der rote Hahn

Pelagia und der rote Hahn

Titel: Pelagia und der rote Hahn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Akunin
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an, als wollte er irgendetwas Unausgesprochenes von ihrem Gesicht ablesen.
    »Groß gewachsen, gezwirbelter Schnurrbart, Stulpenstiefel, künstliches Auge?«, wiederholte er die Personenbeschreibung und drehte sich zum Kapitän um. »So jemand an Bord?«
    »Jawohl! Kabine Nummer dreizehn, Herr Ostrolyshenski, reist von Nischni Nowgorod nach Kasan.«
    »Nummer dreizehn?«
    Dolinin machte auf dem Absatz kehrt und verließ die Kabine.
    Die Zurückgebliebenen sahen sich an, enthielten sich aber jeglicher Kommentare oder Meinungsäußerungen.
    Der Kapitän füllte Wasser aus einer Karaffe in ein Glas, wischte den Rand des Glases mit einem Tuch ab und trank in durstigen Zügen; dann goss er gleich noch einmal nach. Die anderen sahen zu, wie sein Adamsapfel über dem Kragen der Uniformjacke hektisch auf und nieder hüpfte.
    Wie furchtbar, dachte Pelagia. Ich habe einen Menschen leichtfertig in Verruf gebracht . . .
    Der Kapitän hatte das zweite Glas heruntergestürzt und machte sich gerade an das dritte, da wurde die Tür ungestüm aufgerissen. Dolinin stand auf der Schwelle.
    »Haben Sie Befehl gegeben, dass alle Passagiere in ihren Kabinen zu bleiben haben?«, fuhr er den Kapitän an.
    »Jawohl.«
    »Und warum ist Passagier Nummer dreizehn dann nicht in seiner Kabine?«
    »Was soll das heißen – nicht in seiner Kabine? Ich habe doch mit eigenen Augen gesehen, wie Herr Ostrolyshenski hineinging! Ich habe ihm noch persönlich gesagt, dass er seine Kabine nicht ohne ausdrückliche Erlaubnis verlassen darf!«
    »So, gesagt haben Sie’s ihm! Sie hätten einen Matrosen im Gang postieren müssen!«
    »Aber das ist völlig unmöglich! Erlauben Sie, ich . . .«
    Der Kapitän stürzte zur Tür.
    »Sparen Sie sich die Mühe«, sagte Sergej Sergejewitsch und verzog despektierlich den Mundwinkel. »Ich bin gerade eben dort gewesen. Das Gepäck ist noch da, aber der Passagier ist verschwunden. Niemand darf die Kabine betreten, es darf nichts berührt werden. Ich habe einen Polizisten vor der Tür postiert.«
    »Ich verstehe nicht . . .«, sagte der Kapitän und machte eine hilflose Geste.
    »Das ganze Schiff muss durchsucht werden!«, befahl Dolinin mit stahlharter Stimme. »Vom Schornstein bis zum Kohlenbunker! Hurtig!«
    Der Kapitän und der Polizeichef stürzten aus der Kabine, der Untersuchungsführer aber wandte sich der Nonne zu und sagte in schon einem ganz anderen Tonfall, wie zu einem Gleichgestellten:
    »Ihr Glasauge hat sich absentiert. Da haben Sie, Mademoiselle Pelagia, Rätsel Nummero zwei.«
    Die Schwester fühlte sich durch das ironische »Mademoiselle« nicht im Geringsten verletzt, sie spürte, dass die ungezwungene Anrede nicht spöttisch, sondern als Zeichen von Sympathie gemeint war.
    »Das ist kein Rasin«, fuhr der Untersuchungsführer nachdenklich fort. »Die kaufen niemals ein Billett, schon gar nicht erster Klasse. Ich vermute, es handelt sich bei dieser Person um einen Raben. Das ist eher deren Stil.«
    »Ein ›Rabe‹ – ist das ein Bandit?«
    »Richtig. Sehr wahrscheinlich gehört er irgendeiner ehrwürdigen Flussbande an. Vielleicht ist er aber auch ein Einzelgänger, einsame Wölfe sind keine Seltenheit bei denen.«
    Das verdächtige Verschwinden des Einäugigen erlöste Pelagia von ihren Schuldgefühlen, und sie wurde wieder kühner.
    »Dieser Mensch sah wirklich wie ein Räuber aus, wie ein großes Raubtier, wissen Sie, größer als ein Wolf, vielleicht wie ein Tiger oder ein Leopard.«
    Kaum hatte sie das gesagt, schämte sie sich auch schon für ihre übertriebene Ausdrucksweise. Schnell ging sie zu einem sachlichen, nüchternen Ton über:
    »Aber eines verstehe ich nicht. Wenn der Mord von einem Banditen großen Kalibers begangen wurde, was ist dann mit diesem Sack, diesem Beutesack? Warum sollte so einer solchen Kleinkram stehlen?«
    »Das ist ein Rätsel«, gab Dolinin zu. »Unzweifelhaft ein Rätsel.«
    Und er machte eine Notiz in seinem Büchlein.
    Blätterte die voll geschriebenen und voll gemalten Seiten durch. Resümierte.
    »Die vorläufige Untersuchung ist damit abgeschlossen. Fassen wir zusammen: Wir haben, dank Ihrer Mithilfe, liebe Schwester, einen Hauptverdächtigen. Die Personenbeschreibung liegt vor (ich werde sie später nach Ihren Angaben vervollständigen), und einen Namen haben wir auch – obwohl der sehr wahrscheinlich falsch ist. Kommen wir also zum Opfer.«
    Dolinin beugte sich über die Leiche und runzelte unzufrieden die Stirn.
    »Sein Gesicht ist vollkommen entstellt,

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