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Pelagia und der rote Hahn

Pelagia und der rote Hahn

Titel: Pelagia und der rote Hahn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Akunin
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wurde im Bett erschlagen. Sehen Sie mal«, sagte Pelagia, »hier auf dem Kissen ist der Abdruck seines Gesichts. Folglich muss Manuila in dem Moment, als der Schlag ihn getroffen hat, mit dem Gesicht nach unten im Bett gelegen haben. Um den Abdruck herum sind Blutstropfen, und zwar ovale. Das bedeutet, das Blut ist von oben nach unten geflossen. Hätte er sich bewegt oder den Kopf gehoben, dann wären die Tropfen länglicher.«
    Sergej Sergejewitsch murmelte irritiert:
    »Das stimmt allerdings . . . Und die Blutspuren auf dem Gesicht verlaufen vom Schädel zur Nase. Sie haben Recht. Ich muss zugeben, ich habe gepfuscht. Allerdings stellt sich jetzt die Frage, wie die Leiche dann auf dem Fußboden liegen konnte, noch dazu in dieser Haltung?«
    »Der Mörder muss ihn vom Diwan heruntergezerrt haben. Dann hat er ihm das Hemd hochgeschoben und den abgerissenen Geldschein in die Hand gesteckt. Das ist die einzig mögliche Erklärung. Warum er das getan hat, darüber möchte ich keine Vermutung anstellen.«
    Der Untersuchungsführer starrte die Ordensschwester verblüfft an, schwieg einen Moment und schüttelte dann den Kopf.
    »Nein, das ist völliger Unsinn, Sie irren sich, Schwester. Ich denke, es war ganz anders. Sie haben keine Vorstellung davon, wie zäh diese so genannten ›Propheten‹ und ihresgleichen sind. Das sind Besessene, in denen steckt eine wahrhaft teuflische Energie, die sind nicht so einfach totzukriegen. Ich hatte mal einen Fall, noch während meiner Zeit als Untersuchungsführer am Gericht. Damals leitete ich die Untersuchung eines Mordes an einem Propheten der Skopzen-Sekte. Seine Jünger hatten ihm mit einem Beil den Kopf fast vollständig von den Schultern gesäbelt, er hing nur noch an einem Stück Haut. Und der Prophet, stellen Sie sich vor, raste noch eine ganze Minute lang durchs Zimmer und ruderte mit den Armen. Das Blut sprudelt wie eine Fontäne aus ihm heraus, der Kopf baumelt ihm auf dem Buckel wie ein Rucksack, und er rennt durch die Gegend. Wie finden Sie das? Und mit unserem Manuila war es bestimmt genauso. Der Rasin dachte, er sei mausetot, und fängt schon mal an, die Scheine zu zählen. Und auf einmal kommt der Tote noch mal zu sich, geht auf den Einbrecher los und will das Geld wiederhaben.«
    »Mit so einem Loch im Schädel?«, warf der Arzt zweifelnd ein. »Das Kleinhirn war verletzt! Aber wer weiß, was es alles geben kann . . . Die Physiologie der prämortalen Konvulsionen ist wissenschaftlich noch kaum erforscht.«
    Pelagia widersprach nicht. Sergej Sergejewitschs Version schien ihr überzeugender als ihre eigene. Also war dieses »Rätsel« wohl doch gelöst.
    Aber sehr bald sollten weitere auftauchen.
    Der Passagier aus der Dreizehn
    »Ganz wie Sie wollen, aber trotzdem hat er dem Toten das Hemd hochgeschoben«, sagte Pelagia. »Haben Sie sich die Falten im Stoff mal genauer angesehen? Sie bilden eine Art ›V‹ über der Brust. Das kann nicht durch den Sturz verursacht worden sein.«
    »Tatsächlich?«, sagte Dolinin und betrachtete die Leiche, aber die Ordensschwester hatte in ihrer Tugendhaftigkeit das Hemd schon zurechtgezogen, sodass es keine Falten mehr gab.
    Die Schwester ließ sich dadurch nicht in Verlegenheit bringen.
    »Dann sehen Sie halt auf den Fotografien nach. Der Mörder war keineswegs von seiner Tat in Angst und Schrecken versetzt, im Gegenteil, er wollte sich noch einen üblen Scherz erlauben . . . Eine solche Handlungsweise setzt eine besondere charakterliche Veranlagung voraus.«
    Sergej Sergejewitsch schaute der pedantischen Zeugin mit höchster Aufmerksamkeit in die Augen.
    »Ich habe das Gefühl, Sie meinen damit etwas ganz Bestimmtes. Haben Sie jemand Konkretes in Verdacht?«
    Die Schwester fühlte sich durchschaut und senkte den Blick. Sie hatte keinen vernünftigen Grund, jemanden zu verdächtigen, sie konnte keinen Grund haben. Aber dieser garstige Streich, den sich der Mörder mit dem geschändeten Leib erlaubt hatte, und vor allem die aus den Höhlen getretenen Augäpfel erinnerten sie an eine andere böse Posse ganz ähnlicher Art. Sollte sie davon erzählen oder lieber nicht?
    »Nun?«, drängte Dolinin.
    »Nicht gerade einen Verdacht . . .«, sagte die Nonne zögernd. »Es gibt da bloß einen Passagier, der . . . so ein großer Herr mit gezwirbeltem Schnurrbart und Stulpenstiefeln . . . Außerdem hat er noch ein Glasauge . . . Ich wüsste wirklich gern, wer er ist. . .«
    Der Untersuchungsführer sah Pelagia unter gerunzelten Brauen hervor

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