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Pelagia und der rote Hahn

Pelagia und der rote Hahn

Titel: Pelagia und der rote Hahn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Akunin
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sorgfältig gekämmt.
    Die plötzliche Auferstehung des unlängst Dahingegangenen war für die Schwester so unerwartet, dass sie vor Schreck einen Schritt zurückwich.
    Sergej Sergejewitsch lachte zufrieden.
    »Na also, jetzt kann man Monsieur Scheluchin auch fotografieren.«
    »Wie haben Sie ihn genannt?«, fragte Pelagia.
    »So, wie es in seinem Pass steht.« Der Untersuchungsführer las von dem Papier ab, das er aus dem Stiefelschaft gezogen hatte. »Pjotr Saweljew Scheluchin, 38 Jahre, orthodoxen Glaubens, Bauer aus dem Dorfe Stroganowka, Bezirk Stariza, Kreis Gorodez, Gouvernement Sawolshsk.«
    »Aber das ist ja bei uns!«, rief die Schwester verblüfft aus.
    »Manuila soll allerdings aus dem Gouvernement Wjatka gebürtig sein. Jedenfalls ist er dort zum ersten Mal als Prediger aufgetreten. Die ›Findelkinder‹ sind übrigens davon überzeugt, ihr Prophet sei im Heiligen Land geboren worden und werde bald dorthin zurückkehren. Tatsächlich hatte Scheluchin ein Billett bis Jaffa . . .«
    Fauchend flammte das Magnesium auf.
    »Noch einmal von vorn. Dann im Dreiviertelprofil von rechts und von links und beide Profile«, ordnete Dolinin an. Er betrachtete den zurechtgemachten Toten mit einem skeptischen Blick und seufzte. »Mittelgroß, gewöhnliches Gesicht, Haare dunkelblond, Augen blau, hagerer Körperbau, keine besonderen Kennzeichen. Diese Beschreibung trifft auf ein Drittel aller russischen Männer zu, mindestens. Nein, Herrschaften, so geht das nicht. Ich brauche hundertprozentige Klarheit.« Er runzelte die Stirn und dachte nach. Zupfte sich am Bart. Ruckte entschlossen mit dem Kopf.
    »Schwester, von hier bis Sawolshsk sind es mit dem Schiff etwa zwölf Stunden, ist das richtig? Und wie lange braucht man von dort aus bis Gorodez?«
    »Noch einmal zwei Tage auf dem Wasserweg. Aber der Kreis Gorodez ist sehr weitläufig, und Stroganowka liegt direkt am Ural. Der Weg dorthin führt durch dichten Wald. Ich war einmal mit Seiner Eminenz in dieser Gegend, wir haben die Raskolniki in ihren Klausen besucht, wir wollten die dortigen Einsiedler davon überzeugen, dass sie keine Angst vor der Obrigkeit haben müssen . . .«
    »Ich werde hinfahren«, erklärte Sergej Sergejewitsch, und in seinen Augen blitzte die Abenteuerlust auf. »Der Fall ist in der Tat von höchstem gesellschaftlichen Interesse. Ein Dolinin ist am Tatort zugegen und soll der Sache nicht auf den Grund kommen? Ausgeschlossen. Ich schicke dem Minister ein Telegramm: Wegen außergewöhnlicher Umstände wird die Inspektionsreise unterbrochen. Er wird nur froh sein, dass ich zur richtigen Zeit am richtigen Ort war.«

III
    Struk
    Selbst schuld
    Drei Tage lang fuhren sie auf einem Lastkahn den Fluss hinauf und kamen nach Gorodez, einem großen altgläubigen Kirchdorf, wo die Weiber in ihren weißen Kopftüchern sich über die linke Schulter spuckten, sobald sie Pelagias Kutte erblickten. Dort übernachteten sie und setzten die Reise am nächsten Tag auf dem Landwege fort, durch den Wald.
    Der Wald hatte keinen Namen, er hieß einfach »Der Wald«.
    Hunderte von Werst zog er sich hin bis zum Uralmassiv, anfangs als Laub-, dann als Mischwald, schließlich als fast ununterbrochener Nadelwald, kletterte über die Berge hinweg, und dahinter, in die Freiheit entlassen, breitete er sich über den ganzen unvorstellbar riesigen Raum hin aus bis an die Ufer des Stillen Ozeans, von breiten, dunklen Flüssen wie von Nähten durchzogen, von denen viele wie er keinen Namen besaßen – denn woher sollte man solche Fülle von Namen nehmen, und wer?
    In der Sawolshsker Region, an seinem äußersten westlichen Rand, erreichte der Wald noch nicht seine ganze Gewalt, aber sogar in dieser Seichtheit unterschied er sich von seinen europäischen Brüdern wie die Wogen eines Ozeans von den Wellen eines Sees – durch seine Mächtigkeit und seinen behäbigen Atem, und überdies durch die absolute Missachtung menschlicher Gegenwart.
    Der Weg erschien nur ganz zu Anfang als ein gehöriger Feldweg, nach kaum zehn Werst jedoch gab er jeglichen Anspruch auf Befahrbarkeit auf und schrumpfte auf die Größe eines gewöhnlichen Pfades zusammen.
    Nach ein paar Stunden Geholper durch die von erstem Frühlingsgras überwucherte Radspur, in der das Wasser mattschwarz glänzte, konnten sich die Reisenden kaum mehr vorstellen, dass es auf dieser Erde so etwas wie Städte, Steppen, Wüsten, offenen Himmel und hellen Sonnenschein gab. Dort, auf freiem Feld, war es schon mild und warm, auf

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