Pelagia und der rote Hahn
es wird nicht leicht sein, ihn zu identifizieren.«
»Warum muss er denn noch identifiziert werden?«, wunderte sich die Nonne. »Er reiste doch in Begleitung mehrerer Personen, die ihn identifizieren können.«
Mit einem Seitenblick auf den Arzt und den Fotografen, die ihrem Gespräch zuhörten, sagte Sergej Sergejewitsch:
»Doktor, gehen Sie doch bitte in die Kabine des Kapitäns, und fassen Sie dort Ihren Bericht ab. Beschränken Sie sich dabei bitte auf das Wesentliche. Und Sie« – an den Fotografen gewandt – »bitte ich, beim Bootsmann eine Rolle Schnur zu besorgen. Und lassen Sie sich auch gleich ein Messer geben – ein Taumesser, der Bootsmann weiß Bescheid.«
Und erst als er mit Pelagia allein war, beantwortete er ihre Frage – wobei er die Stimme zu einem vertraulichen Raunen senkte.
»Wissen Sie, Mademoiselle, warum ich solchen Wert darauf lege, diesen Mord selber aufzuklären?«
Das war offensichtlich eine rhetorische Frage, und Dolinin hätte sicher, nach einer angemessenen Kunstpause, die Antwort selber geliefert, indes nahm sich die Nonne, der der kluge Untersuchungsführer immer besser gefiel, die Freiheit heraus (immerhin war sie ja jetzt schon nicht mehr »Schwester«, sondern »Mademoiselle«) und sagte:
»Ich nehme an, Ihre Inspektion ist Ihnen langweilig geworden, und Sie wollten sich wieder mal mit etwas Lebendigerem beschäftigen.«
Sergej Sergejewitsch lachte kurz auf, und sein nüchternes, verbittertes Gesicht wirkte für einen Moment weicher und jünger.
»Das ist, zugestandenermaßen, vollkommen richtig, Ihr Scharfsinn versetzt mich ein weiteres Mal in Entzücken. Wissen Sie, ich kann mich in der Tat an diese Verwaltungsarbeit nicht so recht gewöhnen. Dabei beneiden mich die Kollegen um meine steile Karriere – mit grade mal vierzig Jahren schon im Generalsrang, Mitglied des Ministerrats und so weiter. Aber ich sehne mich nach meiner früheren Tätigkeit zurück. Bis vor einem Jahr, müssen Sie wissen, war ich nämlich noch Untersuchungsführer für besonders wichtige Fälle, und zwar, wie ich zu behaupten wage, nicht der Untalentierteste.«
»Das sieht man. Und dann hat man Sie für Ihre hervorragenden Leistungen im Dienst befördert?«
»Wenn es denn so wäre.« Dolinin lachte. »Nein, ein einfacher Untersuchungsführer, selbst wenn er ein noch so kluges Köpfchen ist und sich tausend Paar Hosen an den Knien durchscheuert und tausend Gehröcke an den Ellenbogen obendrein, wird sich im Leben nicht zu derartigen Höhen emporschwingen. Große Karriere macht man anders.«
»Aha, und wie?«
»Mit Papier, teuerste Schwester. Das Papier ist der fliegende Teppich, auf dem man sich in unseren heimischen Gefilden zu den höchsten Gipfeln erheben kann. Einen anderen Weg gibt es nicht. Als ich zur Feder griff, da dachte ich allerdings keinen Augenblick lang an meine Karriere, das können Sie mir glauben. Im Gegenteil, ich hoffte nur, dass man mich für meine Unverfrorenheit nicht am Kragen packen und im hohen Bogen vor die Tür setzen würde. Aber es war mir einfach unerträglich, diesen ganzen hinterwäldlerischen Schlendrian weiter mit anzusehen. Ich verfasste ein Reformprojekt und schickte es an einige hoch gestellte Persönlichkeiten der Regierung, in deren Händen die Wahrung von Recht und Gesetz liegt. Ich dachte, komme, was da kommen will. Innerlich stellte ich mich schon darauf ein, mir eine neue Tätigkeit zu suchen, im anwaltlichen Sektor. Und plötzlich wird der kleine, nichtswürdige Diener Gottes auf den Olymp gerufen. Dort klopft man ihm auf die Schulter und sagt: Bravo, auf so einen wie dich haben wir schon lange gewartet.« Dolinin machte eine ulkige Geste, als kapituliere er vor den unvorhersehbaren Launen des Schicksals. »Ich wurde damit beauftragt, die Zusammenarbeit von polizeilichen und gerichtlichen Ermittlungsorganen zu reorganisieren und zu reformieren. Selber schuld, sagt man dazu wohl. Und so irre ich jetzt wie der ewige Jude durch Stadt und Land. Das Reorganisieren kommt mir allmählich schon zu den Ohren heraus. Aber bitte denken Sie nicht, Mademoiselle Pelagia, Dolinin wollte sich auf einmal drücken wie ein Gymnasiast, der eine langweilige Schulstunde schwänzt. Mitnichten, ich bin ein verantwortungsvoller Mensch, ich habe keine Neigung zu Bubenstreichen. Nein, mit diesem Möchtegern-Propheten Manuila hat es vielmehr eine ganz besondere Bewandtnis: Er wurde nämlich schon zum zweiten Male ermordet.«
»Wie bitte?«, ächzte Pelagia.
Der verhexte
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