Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Pelagia und der schwarze Moench

Pelagia und der schwarze Moench

Titel: Pelagia und der schwarze Moench Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Akunin
Vom Netzwerk:
schlafe, ist es schlimm. Am besten wäre es, gar nicht mehr aufzuwachen.«
    »Gar nicht mehr aufwachen – so ein Unsinn.« Polina Andrejewna strich dem armen Kerl noch immer über das Gesicht. »Aber es würde Ihnen gut tun, wenn Sie jetzt ein wenig schlafen könnten. Schließen Sie die Augen, atmen Sie tief durch. Sie werden sehen, dann erscheint Ihnen auch der Bischof im Traum.«
    Matwej Benzionowitsch kniff gehorsam die Augen zusammen, atmete tief und eifrig – offenbar wünschte er sich sehr, vom Bischof zu träumen.
    Vielleicht ist doch nicht alles so schlimm, sagte sich Polina Andrejewna, um sich zu trösten. Wenn ich sage, wer ich bin, erkennt er mich. Und an den Bischof erinnert er sich auch.
    Frau Lissizyna behielt die Tür im Auge und warf einen Blick in den Nachttisch. Nichts Bemerkenswertes: Taschentücher, ein paar leere Blatt Papier, ein Portemonnaie. Im Portemonnaie Geld und eine Fotografie seiner Frau.
    Dafür fand sich unter dem Bett eine gelbe Reisetasche aus Schweinsleder. Am Schloss hing ein kleines Kupferschild mit dem Namen F. S. Lagrange. Darin befand sich das von Berditschewski gesammelte Untersuchungsmaterial: das Protokoll von Lagranges Leichenschau, Alexej Stepanowitschs Brief an den Bischof, der in einen Lappen eingewickelte Revolver (Polina Andrejewna schüttelte nur den Kopf – schön dumm von Korowin, das musste man sagen, dass er keine Zeit gefunden hatte, einen Blick auf die Sachen des Patienten zu werfen), und noch zwei andere Gegenstände unbekannter Herkunft: ein weißer Handschuh mit einem kleinen Loch und ein schmutziges Batisttüchlein.
    Die Reisetasche beschloss die Lissizyna mitzunehmen – wozu brauchte Berditschewski sie noch? Sie sah sich um, ob es im Zimmer sonst noch etwas gab, was sie gebrauchen könnte. Auf dem Nachttisch von Ljampes Bett sah sie ein dickes Heft. Sie zögerte kurz, nahm es dann an sich, trug es zur Lampe und begann, es durchzublättern.
    O weh, es war unmöglich, von all diesen Formeln, Tabellen und Kürzeln etwas zu verstehen. Auch war die Handschrift des Physikers nicht deutlicher, als seine Art zu reden. Polina Andrejewna seufzte enttäuscht und schlug das Titelblatt auf. Als eine Art Motto stand dort mehr oder weniger leserlich geschrieben:
    Messen, was messbar ist – messbar machen, was nicht messbar ist.
    G. Galilei
    Jetzt war es aber genug!
    Die ungebetene Besucherin legte das Heft wieder an seinen Platz und kletterte durch das Lüftungsfenster zurück. Zuerst warf sie die Reisetasche hinaus (es war nichts darin, was kaputtgehen konnte), dann zwängte sie sich selbst hindurch.
    Der Abstand zum Erdboden draußen war größer als der zu den Dielen im Zimmer, doch der Purzelbaum gereichte ihr wieder zur Ehre. Die biegsame Springerin landete wohlbehalten in der Hocke, richtete sich auf und schüttelte den Kopf: Nach dem hell erleuchteten Schlafzimmer schien ihr die Nacht undurchdringlich, und wie zum Trotz hatte sich auch noch der Mond hinter einer Wolke verkrochen.
    Frau Lissizyna beschloss zu warten, bis sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, und stützte sich mit der Hand an der Mauer ab. Doch mit Polina Andrejewnas Gehör war alles in Ordnung, und als sie hinter ihrem Rücken ein Geräusch vernahm, drehte sie sich schnell um.
    Ganz in der Nähe, vielleicht einen Klafter entfernt, tauchte eine schmale schwarze Gestalt aus dem Dunkel auf. Frau Lissizyna, vor Schreck ganz starr, erkannte deutlich eine spitz zulaufende Kapuze mit Sehschlitzen und bemerkte, wie die unheimliche Silhouette sich um die eigene Achse drehte, woraufhin ein Pfeifen die Luft zerschnitt und von der Seite her ein mit aller Kraft geführter Schlag auf ihren Schädel niedersauste.
    Polina Andrejewna stürzte hintüber und fiel rücklings auf die Reisetasche von Lagrange.
    Neue Sünden
    Erst am nächsten Morgen konnte die Lissizyna das ganze Ausmaß des erlittenen Schadens erkennen.
    Wie lange sie ohnmächtig an der Mauer von Cottage Nummer sieben gelegen hatte, bevor sie vor Kälte wieder zu sich gekommen war, wusste sie nicht mehr. Taumelnd und sich den Kopf haltend hatte sie sich ins Hotel geschleppt, sie konnte sich nicht erinnern, wie. Ohne sich auszuziehen, war sie auf das Bett gesunken und sofort in einen tiefen, an Bewusstlosigkeit grenzenden Dämmerzustand gefallen.
    Sie erwachte spät, kurz vor Mittag, und setzte sich an ihren Toilettentisch, um sich im Spiegel zu betrachten.
    Ein schöner Anblick! Es war unbegreiflich, wie die körperlose Erscheinung,

Weitere Kostenlose Bücher